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Anti-Folterkommission: Die Bedingungen in Untersuchungshaft sind oft zu restriktiv

29.06.2015

Untersuchungshäftlinge müssen in der Schweiz häufig zu viele Einschränkungen in Kauf nehmen. Trotz der für sie geltenden Unschuldsvermutung ist ihr Lebensalltag in der U-Haft oft strengeren Bedingungen unterworfen als bei Personen, die rechtskräftig verurteilt worden sind. Zu diesem Schluss kommt die Nationale Kommission für die Verhütung von Folter (NKVF) in ihrem Tätigkeitsbericht 2014. Die Gründe für die oft unverhältnismässigen Einschränkungen der Rechte von Untersuchungshäftlingen sind vielfältig.

20 Stunden pro Tag eingeschlossen

Mit Blick auf die Unschuldsvermutung trage die aktuelle Ausgestaltung des Untersuchungshaftvollzugs den grundrechtlichen Anforderungen nicht gebührend Rechnung, schreibt die NKVF in ihrem Communiqué vom 23. Juni 2015.

Die Haftbedingungen unterscheiden sich gemäss NKVF von Kanton zu Kanton erheblich. Als unverhältnismässig bezeichnet die Kommission namentlich die in den meisten Einrichtungen übermässig langen Einschlusszeiten von über 20 Stunden am Tag. Auch die Möglichkeiten in Bezug auf sportliche Betätigung und Beschäftigung erwiesen sich in den von der Kommission überprüften Einrichtungen als sehr unterschiedlich und standen oftmals nur Personen im Strafvollzug zur Verfügung.

Generelle Besuchsverbote

Als besonders problematisch stufte die Kommission auch die unterschiedliche und zum Teil sehr restriktive Handhabung der Aussenkontakte ein, insbesondere in Bezug auf den Empfang von Familienbesuchen und den Zugang zum Telefon. Im Lichte menschen- und grundrechtlicher Vorgaben erachtet sie das Verhängen von generellen Besuchsverboten als nicht verhältnismässig und legt den Strafverfolgungsbehörden und den Anstaltsleitungen deshalb nahe, in ihren Richtlinien das Recht auf Privat- und Familienleben gebührend zu berücksichtigen.

Zu viel Zurückhaltung im Kanton Bern?

Die NKVF hat seit Aufnahme ihrer Tätigkeiten im 2010 insgesamt 26 Einrichtungen besucht, in denen Untersuchungshäftlinge untergebracht sind. Bereits bei früheren Besuchen in entsprechenden Einrichtungen hat die NKVF die Haftbedingungen in der Untersuchungshaft teilweise stark kritisiert. So etwa im Regionalgefängnis Bern, wo die NKVF bereits 2011 einige der oben erwähnten Mängel und unter anderem viel zu kleine Zellen feststellte. Die damals vom Kanton angekündigten Verbesserungsmassnahmen wurden bisher nicht umgesetzt.

Der Zuständige beim kantonalen Amt für Freiheitsentzug und Betreuung bestätigt die Vorwürfe der NKVF in der Sache, wie die Zeitung Der Bund berichtete. Er verweist darauf, dass der Kanton mehr Zeit benötige. Der Regierungsrat sei gegenwärtig daran, eine neue Gefängnisstrategie auszuarbeiten. Mit diesem zögerlichen Angehen der Probleme riskiert der Kanton Bern gemäss NKVF-Präsident Jean-Pierre Restellini, dass er wegen der ungenügender Haftbedingungen eingeklagt wird. Er verweist dabei auf ein im 2014 ergangenes Urteil des Bundesgerichts, welches den Kanton Genf aufgrund der Berichte der NKVF zur Zahlung einer Genugtuung an zwei Häftlinge verurteilt hat.

Begleitendes Gutachten des SKMR

Die kritischen Befunde der NKVF bei solchen früheren Besuchen waren der Anlass für eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema U-Haft. Die NKVF überprüfte deshalb 2014 sieben Untersuchungsgefängnisse und fasst die Erkenntnisse im nun veröffentlichten Tätigkeitsbericht zusammen.

Begleitet wurde die Untersuchung der NKVF von einem Gutachten des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR). Dieses analysiert die internationalen Standards zur Ausgestaltung von Untersuchungshaft, den entsprechenden Rechtsrahmen in der Schweiz sowie die schweizerische Praxis und nimmt vor diesem rechtlichen Hintergrund eine Bewertung vor.

Mehrere Befunde des Gutachtens sind in den NKVF-Bericht eingeflossen. Gemäss Gutachten haben insbesondere die vielen kleinen Untersuchungsgefängnisse in der Schweiz Mühe, den menschenrechtlichen Vorgaben nachzukommen. Als ein Faktor, der zu rechtlichen Defiziten beiträgt, nennt das SKMR jedenfalls die Zersplitterung der Gefängnislandschaft in viele kleine und sehr kleine Gefängnisse, welchen teilweise die Ressourcen und eine geeignete Infrastruktur für einen rechtskonformen Vollzug fehlen. 

Kommentar

Die Unterschiede von Kanton zu Kanton sind laut Gutachten frappant und viel grösser als im Strafvollzug. Es entsteht der Eindruck, dass die prekären Verhältnisse eher die Regel als die Ausnahme sind.

Bedenkenswert für die menschenrechtliche Situation von Untersuchungshäftlingen ist, dass offenbar viele Einschränkungen systematisch und gezielt erfolgen, um das Verhalten der Gefangenen im gegen sie laufenden Strafverfahren zu beeinflussen. Mancherorts ist laut dem Gutachten die Überzeugung tief verwurzelt, dass Untersuchungshaft die strengste Haftform sein müsse. Da liegt der Verdacht nahe, dass es sich weniger um legitime Untersuchungs- als vielmehr um verbotene Beugehaft handelt. Die Behörden müssen dringend Reformen in die Wege leiten, um diesen Verdacht zu entkräften.

Dokumentation