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Keine Anerkennung für Roma als nationale Minderheit

13.06.2018

Der Bundesrat hat am 1. Juni 2018 den Antrag von zwei Schweizer Roma-Organisationen auf Anerkennung der Roma als nationale Minderheit im Sinne des Europarats-Abkommens zum Schutz nationaler Minderheiten abgelehnt. Die betroffenen Organisationen und die Gesellschaft für bedrohte Völker halten diesen Entscheid für diskriminierend, zumal der Bundesrat im Herbst 2016 die Jenischen und Sinti explizit als nationale Minderheiten anerkannt hatte.

«Kriterien nicht erfüllt»

Die Begründung des Bundesrats für seinen ablehnenden Entscheid war voraussehbar. Er stützte sich auf die im Jahre 1998 mit der Ratifizierung des Minderheitenabkommens des Europarats abgegebene Erklärung, welche das Schweizer Begriffsverständnis von nationalen Minderheiten mit folgenden Kriterien umreisst: Zahlenmässige Minderheit, Schweizer Staatsbürger/innen, seit langem bestehende, feste und dauerhafte Bindungen zur Schweiz und der kollektive Wille der Minderheit, ihre Identität zu bewahren. Diese Kriterien sah der Bundesrat im Falle der Schweizer Roma als nicht oder nicht ausreichend erfüllt an.

Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Schweizer Staatsbürgerschaft und der Wille zur Bewahrung der kollektiven Identität zu wenig belegt seien. Die seit langem bestehende Bindung an die Schweiz spricht er den Roma ab. Gleichzeitig beeilt sich der Bundesrat zu betonen, dass die Roma «ein anerkannter Bestandteil der Schweizer Gesellschaft» seien. Roma-Organisationen seien institutionell eingebunden, und Roma-Projekte würden unterstützt. Weiter bekräftigt der Bundesrat «die Verpflichtung der Schweizer Behörden, Rassismus und negative Stereotypen zu bekämpfen und die Roma vor Diskriminierung zu schützen».

«Diskriminierender Entscheid»

Die Schweizer Roma-Organisationen Rroma Foundation und Romano Dialog hatten ihren Antrag zur Anerkennung der Roma als nationale Minderheit u.a. mit einem historischen Gutachten untermauert, welches aufzeigt, dass die Roma seit vielen Jahrhunderten keine echte Chance gehabt hatten, dauerhafte Bindungen zur Schweiz aufzubauen. Denn sie wurden seit dem 14. Jahrhundert im Gebiet der Eidgenossenschaft immer wieder zur Zielscheibe von Unterdrückung, Verfolgung, Ausweisung und Vernichtung. Vor diesem Hintergrund wäre es zynisch, das Kriterium der «festen und dauerhaften Bindungen zur Schweiz» tel quel anzuwenden, um die Roma einmal mehr - wenn auch nur auf symbolischer Ebene - auszuschliessen. Genau dies hat nun aber der Bundesrat getan.

In einer gemeinsamen Medienmitteilung kritisieren Rroma Foundation, Romano Dialog und die Gesellschaft für bedrohte Völker den Entscheid des Bundesrats scharf. Da die Sinti, welche historisch gesehen selber eine Roma-Gruppe sind, unlängst als nationale Minderheit anerkannt worden sind, würden mit dem Entscheid Minderheiten gegeneinander ausgespielt und die Roma diskriminiert. Damit würde eine seit vielen Jahrhunderten andauernde diskriminierende Politik gegenüber den Roma bestätigt; dies sei skandalös.

Kommentar: Nur eine symbolische Frage?

Angesichts der sehr weitmaschigen Schweizer Definition einer nationalen Minderheit war der ablehnende Entscheid des Bundesrats zwangsläufig politisch motiviert. Denn man hätte auch anders entscheiden können.

Es wäre sogar denkbar gewesen, dass der Bundesrat die vor 20 Jahren gesetzte Definition einer nationalen Minderheit als unpassend revidiert hätte. Denn diese ist keineswegs über jeden Zweifel erhaben. Schon im ersten NGO-Bericht zur Minderheitenkonvention im Jahre 2002 wurde die Definition radikal in Frage gestellt: «Das Kriterium, dass eine nationale Minderheit alte, solide und dauerhafte Beziehungen zur Schweiz unterhalten müsse, ist nicht zwingend, sondern willkürlich und wenig zukunftstauglich.» (S.3)

Die Zurückweisung des Antrags der Schweizer Roma-Organisationen hat eine sachliche, eine symbolische und eine finanzpolitische Ebene.

Sachlich gibt es offensichtlich unterschiedliche Auffassungen zu den Fragen, wie gross der Anteil der Schweizer Bürger/innen unter den in der Schweiz ansässigen Roma ist, wie ausgeprägt der gemeinsame Willen der Schweizer Roma ist, ihre Herkunftskultur zu bewahren, und wie die historischen Beziehungen der Schweizer Roma zur Schweiz zu interpretieren sind. Das sind allesamt Fragen, die teilweise wenig erforscht sind und teilweise kontrovers beantwortet werden. Zu diesen Fragen hätte der Bundesrat mindestens einen Bericht erstellen müssen, um seine Haltung nachvollziehbar zu begründen.

Symbolisch hat der Bundesrat eine zwiespältige Botschaft verkündet: Zwar können wir euch - im Gegensatz zu den Sinti und den Jenischen - als nationale Minderheit nicht anerkennen. Macht aber nichts, denn ihr seid ja bereits ein anerkannter Teil der Schweizer Gesellschaft. Die letztere Behauptung ist vor allem Wunschdenken. Weshalb exponiert sich der Bundesrat mit einer so wenig kohärenten Aussage?

Offensichtlich gibt es einen verborgenen Grund für die Abwehr des Antrags der Roma-Organisationen. Man kann vermuten, dass es die Furcht vor den Ansprüchen anderer schweizerischer Minderheiten auf Anerkennung als nationale Minderheiten ist. Denn etliche neue, durch Zuwanderung entstandene ethnische Minderheiten in der Schweiz befinden sich als Gruppe in einer vergleichbaren Situation.

Was ist das Motiv, eine solche Entwicklung von Anfang an zu blockieren, mal abgesehen von der reflexhaften Vorwegnahme der zu erwartenden fremdenfeindlichen Reaktionen? Man darf annehmen, dass finanzielle Motive im Zentrum stehen. Denn die Anerkennung von nationalen Minderheiten würde etliche sprach- und kulturpolitischen Ansprüche von entsprechenden Organisationen wenn nicht begründen so doch entscheidend stärken. Man müsste also mit entsprechend höheren Ausgaben für die öffentliche Hand rechnen. Solchen neuen Begehrlichkeiten und den damit verbundenen politischen Wirbeln wollte der Bundesrat vermutlich einen Riegel schieben. Demnach handelt es sich auch um einen verdeckten finanzpolitischen Entscheid - einmal mehr auf Kosten der Sachlogik.

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