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Klimaklagen gegen Staaten

13.11.2023

 

Staaten spielen bei der Klimakrise eine zentrale Rolle. Sie sind massgeblich für die Formulierung und Umsetzung von Klimapolitik verantwortlich und müssen gleichzeitig auch internationalen Verpflichtungen zur Reduktion von Treibhausgasemissionen nachkommen. Weiter müssen sie auch Massnahmen ergreifen, welche ihre Bürger*innen vor den negativen Auswirkungen des Klimawandels schützen. Genau um diese Punkte ging es im Fall KlimaSeniorinnen vs. Schweiz, den die Beschwerdeführerinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gewonnen haben, nachdem sie von den Schweizer Gerichten dreimal abgewiesen worden waren.

Eine Folge des Klimawandels sind die in jeder Region der Welt ansteigenden durchschnittlichen Jahrestemperaturen. In der Schweiz bedeutet dies einerseits für den Winter weniger Schneetage und eine potenziell höhere Schneefallgrenze, andererseits für den Sommer mehr Hitzetage und Tropennächte. Bereits heute sind die Jahresmitteltemperaturen in der Schweiz doppelt so stark gestiegen wie im weltweiten Durchschnitt. Nicht alle Bevölkerungsgruppen sind von diesen Veränderungen gleich betroffen. Zur am meisten gefährdeten Risikogruppe gehören unter anderem ältere Frauen. Als Folge häufigerer und intensiverer Hitzeperioden werden sie aufgrund ihrer Physiologie vermehrt krank und sterben. Bereits in früheren Hitzesommern wurde eine Übersterblichkeit gerade bei älteren Menschen festgestellt. Gerade deshalb sind solche speziell gefährdeten Bevölkerungsgruppen direkt durch die Schweizer Klimapolitik betroffen.

Die Schweiz hat wie 194 andere Staaten das Pariser Klimaabkommen aus dem Jahr 2015 unterzeichnet. Damit hat der Staat sich verpflichtet, seinen Beitrag zu einer Begrenzung der globalen Erwärmung von deutlich unter 2°C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Der Schweizer Beitrag besteht unter anderem darin, dass der Staat bis 2050 nicht mehr Treibhausgase in die Atmosphäre emittieren soll, als durch natürliche und technische Speicher aufgenommen werden. Durch die Annahme des Klima- und Innovationsgesetzes ist dieses Netto-Null-Ziel nun auch gesetzlich verankert. Doch laut dem Verein «KlimaSeniorinnen Schweiz» ist dies zu wenig. Die Schweiz hat es versäumt, Klimaziele zur Einhaltung der Verpflichtungen durch das Pariser Klimaabkommen festzulegen. Ausserdem wurden die eigens gesetzlich festgelegten Reduktionsziele für das Jahr 2020 verfehlt. Die Klimaseniorinnen argumentieren, dass die Schweiz nicht nur ihrer Verpflichtung im Zusammenhang mit dem Pariser Klimaabkommen nicht nachkommt, sondern gleichzeitig auch die Bundesverfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt. Der Staat komme weder seiner Schutzplicht nach, noch gewähre er den Klägerinnen ihre Menschenrechte nach Art. 2 (Recht auf Leben) und Art. 8 (Achtung des Privat- und Familienlebens).

Nachdem die Klimaseniorinnen beim UVEK, Bundesverwaltungsgericht und Bundesgericht mit ihrem Anliegen, die Schweiz zu einer Verschärfung ihrer Klimapolitik zu bewegen scheiterten, reichten sie Ihre Klimaklage am 1.12.2020 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Sie fordern eine unabhängige gerichtliche Überprüfung der Klimapolitik der Schweiz. Der Staat soll seine Schutzpflichten gegenüber den Klimaseniorinnen wieder wahrnehmen und ein Klimaziel verfolgen, das der Anforderung genügt, eine gefährliche Störung des Klimasystems zu verhindern. Konkret wird gefordert, die auf Schweizer Boden anfallenden Emissionen mit inländischen Massnahmen bis 2030 um mehr als 60% zu senken, und nicht wie bisher vorgesehen um 34%. Zusätzlich soll die Schweiz bis 2030 umfangreiche Emissionsreduktionen im Ausland ermöglichen, welche in der Summe sämtliche Emissionen, die bis 2030 weiterhin innerhalb der Schweiz anfallen, übersteigen.

Die öffentliche Anhörung vor der grossen Kammer fand im März 2023 statt. Im Urteil vom 9. April 2024 hat der EGMR erstmals überhaupt geprüft, inwiefern ein Staat seine Klimapolitik anpassen muss, um die Menschenrechte der eigenen Bevölkerung zu gewähren. Mit dem Urteil zugunsten der Klimaseniorinnen verpflichtete der EGMR nicht nur die Schweiz ihre Klimapolitik anzupassen. Der EGMR hat hier einen Präzendenzfall für alle Staaten des Europarates geschaffen.