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Eine potentielle Öffnung für die Sterbehilfe in der Schweiz

04.04.2024

Das Bundesgericht hob die Verurteilung eines Arztes durch die Genfer Justiz auf, weil er einer gesunden 80-Jährigen eine tödliche Substanz zur Verfügung gestellt hatte, damit sie ihrem Leben ein Ende setzen konnte. Dieses Urteil stellt zwar eine verpasste Gelegenheit dar, den Umfang der Suizidhilfe zu präzisieren, markiert jedoch eine Öffnung der Rechtsprechung, da das Bundesgericht die Ausweitung der Suizidhilfe auf ältere Menschen mit einem erfüllten Leben nicht explizit ausschliesst.

In seinem Urteil vom 9. Dezember 2021 hob das Bundesgericht die Verurteilung eines Arztes, des ehemaligen Vizepräsidenten von Exit, wegen Verstosses gegen das Heilmittelgesetz auf. Er hatte einem sterbenden Mann und seiner gesunden Ehefrau ein Rezept ausgestellt, damit das Paar gemeinsam sterben konnte. Die Frau hatte immer gesagt, dass sie nicht ohne ihren Mann leben wolle.
Die Richter in Mon Repos waren der Ansicht, dass das Heilmittelgesetz nicht gilt, wenn die Person, die das Mittel erhält, gesund ist. Sie forderten die Genfer Justiz auf, den Fall unter dem Gesichtspunkt des Betäubungsmittelgesetzes erneut zu beurteilen.

Im Urteil vom 13. März hat das Bundesgericht die Beschwerde der Genfer Staatsanwaltschaft gegen die Freisprechung des Arztes durch den Genfer Kantonsgerichts abgelehnt. Der Fall zeigt die Lücken im Schweizer Recht auf: Die derzeit geltenden Regelungen lassen die Frage der Sterbehilfe für Personen, die nicht todkrank sind, offen.

Eine umstrittene Verurteilung

Im Oktober 2019 wird Pierre Beck vom Polizeigericht Genf wegen Verstosses gegen das Heilmittelgesetz (Art. 86 Abs. 1 Bst. a HMG) verurteilt. Am 20. April 2020 bestätigt die Berufungs- und Revisionsstrafkammer seine Verurteilung zu einer Geldstrafe und einer Busse. Sie ist der Ansicht, dass der Arzt seine Sorgfaltspflicht verletzt hat, indem er einer gesunden Frau Pentobarbital verschrieben hat. Nach den Medizin-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften zum Umgang mit Sterben und Tod darf ein Arzt oder eine Ärztin nur dann Hilfe beim Suizid einer Person leisten, wenn fünf Bedingungen kumulativ erfüllt sind. Insbesondere ist erforderlich, dass der Patient oder die Patientin aufgrund einer Krankheit oder funktionellen Einschränkungen leidet und dies als unerträglich empfindet (Richtlinien, S. 26). Pierre Beck legte gegen das kantonale Urteil Berufung ein. 2021 lehnte das Bundesgericht die Verurteilung des Beschwerdeführers auf der Grundlage des HMG ab. So musste die Genfer Justiz neu entscheiden, ob der Arzt wegen eines Verstosses gegen das Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe (BetmG) verurteilt werden kann.

Dieses Urteil war umstritten, da sich die Richter nur schwer einigen konnten: Während die einen den gesetzlichen Rahmen als zu unklar betrachteten und auf einen Freispruch plädierten, entschied das Gericht schliesslich, den Fall an die Genfer Justiz zurückzuweisen; dies jedoch unter Ausschluss des HMG, da dieses nach Ansicht des Bundesgerichts nur auf Produkte mit therapeutischem Zweck anwendbar ist. Ein Produkt hat einen therapeutischen Zweck, wenn es zur Linderung von Schmerzen oder Symptomen eingesetzt wird. Im vorliegenden Fall, in welchem einer älteren aber gesunden Frau Pentobarbital verschrieben wurde, konnte das Produkt nicht als "therapeutisch" eingestuft werden. Das Bundesgericht war der Ansicht, dass die Vorinstanz zu Unrecht das HMG als Rechtsgrundlage herangezogen hatte. Es wies die Genfer Justiz an, den Fall unter dem Gesichtspunkt des BetMG neu zu verhandeln, da dieses Gesetz die Verwendung von Betäubungsmitteln zu anderen als therapeutischen Zwecken regelt. Je nach Ausgang des zweiten Genfer Urteils könnte der Fall erneut vor das Bundesgericht gebracht werden, entweder durch den Arzt im Falle einer Verurteilung oder durch die Staatsanwaltschaft im Falle eines Freispruchs. Exit ist der Ansicht, dass dieses Urteil unbefriedigend ist und die Debatte umgangen wird: Mit der Tatsache, dass sich die Justiz mit der Verwendung von Pentobarbital als Betäubungsmittel befasst, wird die Rechtslücke im Bereich des assistierten Suizids nicht geschlossen.

In einem Urteil vom 6. Februar 2023 spricht die Genfer Berufungs- und Revisionsstrafkammer Pierre Beck aus strafrechtlicher Sicht frei. Die Richter*innen sind der Ansicht, dass «die bloße Tatsache, dass ein Arzt einer gesunden, urteilsfähigen und sterbewilligen Person Pentobarbital verschreibt, kein durch das Betäubungsmittelgesetz unter Strafe gestelltes Verhalten darstellt». Am 6. Februar 2023 sprach die Berufungs- und Revisionskammer für Strafsachen Pierre Beck frei. Für das Genfer Kantonsgericht ist das Betäubungsmittelgesetz «nicht dazu bestimmt, die Bedingungen zu regeln, unter denen ein Arzt Pentobarbital verschreiben darf, da diese Substanz nicht in den Anwendungsbereich einer medizinischen Indikation fällt.» Die Genfer Staatsanwaltschaft legte gegen den Freispruch von Pierre Beck beim Bundesgericht Beschwerde ein, um zu klären, ob das einzig anwendbare Rechtsinstrument im Bereich der Beihilfe zum Suizid Artikel 115 des Strafgesetzbuches sei, der die Beihilfe zum Suizid aus selbstsüchtigen Beweggründen unter Strafe stellt.

Im Urteil vom 13. März 2024 stellte das Bundesgericht fest, dass der Arzt nach keinem Tatbestand aus dem BetmG verurteilt werden kann. Das BetmG soll die Bereitstellung von Betäubungsmitteln für medizinische oder wissenschaftliche Zwecke regeln sowie die Bekämpfung von Betäubungsmittelabhängigkeit regeln. Die Verschreibung von Natrium-Pentobarbital an eine gesunde Person erfolgt jedoch ohne medizinische Indikation und ohne therapeutischen Zweck.

Rechtsunsicherheit in Bezug auf die Sterbehilfe in der Schweiz

Zwar ist die schweizerische Regelung im Bereich der Suizidhilfe liberaler als in anderen Nachbarstaaten, doch gibt es nach wie vor Grauzonen. Das Schweizer Recht toleriert Suizidhilfeorganisationen aufgrund des Autonomieprinzips. Dieses Prinzip lässt sich sowohl aus der Gesetzgebung, d. h. aus dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) und dem Recht auf persönliche Freiheit (Art. 10 BV), als auch aus der Rechtsprechung des Bundesgerichts ableiten, wonach jeder das Recht hat, "die Form und den Zeitpunkt seines Lebensendes zu wählen" (BGE 133 I 58, E. 3.2).

Gemäss den von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) herausgegebenen Medizin-ethischen Richtlinien über den Umgang mit Sterben und Tod ist die Beihilfe zum Suizid von gesunden Personen ethisch nicht vertretbar, da der extreme Grad des Leidens nicht hinreichend "durch eine entsprechende Diagnose und Prognose substantiiert" werden kann (Richtlinien, S. 26). Im Mai 2022 hat die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte diese Richtlinien genehmigt und in ihre Standesordnung aufgenommen. Diese ist jedoch nicht rechtsverbindlich, was zu einer problematischen Rechtsunsicherheit führt, sowohl für Personen, die ihrem Leben ein Ende setzen wollen, als auch für medizinische Fachkräfte, die administrative oder strafrechtliche Sanktionen befürchten müssen. Für die Beschaffung von Natrium-Pentobarbital (NaP) ist ein ärztliches Rezept erforderlich und ein Arzt oder eine Ärztin darf diese tödliche Substanz "nur in dem von der Wissenschaft anerkannten Umfang" verschreiben (Art. 11 BetmG). Eine Person, die einer anderen Person beim Suizid hilft ist jedoch nur dann strafrechtlich verantwortlich, wenn sie aus selbstsüchtigen Motiven handelt (Art. 115 StGB); darüber hinaus ist unklar, ob und wie sie für den Tod der Person, die sich das Leben nehmen will, verantwortlich gemacht werden kann.

In seiner Antwort auf eine Interpellation in der Herbstsession 2022, in welcher er aufgefordert wurde, Natrium-Pentobarbital in das Heilmittel- oder Betäubungsmittelgesetz aufzunehmen um den Ärzt*innen Rechtssicherheit zu geben, hielt es der Bundesrat nicht für notwendig, Bestimmungen zu erlassen. In einem 2011 veröffentlichten Bericht vertrat er die Auffassung, dass das geltende Recht zwar keine Sonderbestimmungen für Suizidhilfeorganisationen enthält, aber dass der Straftatbestand der Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord (Art. 115 StGB), verstärkt durch die anderen Straftaten gegen das Leben (Art. 111 ff. StGB), das HMG, das BetMG und die Standesregeln jedoch ausreichen. Nach Ansicht des Bundesrates könnte eine Änderung des Straftatbestandes der Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord (Art. 115 StGB und 119 MStG) zur offiziellen Legitimierung von Suizidhilfeorganisationen beitragen. Dies würde die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens erheblich relativieren und Widerstand in medizinischen Kreisen hervorrufen. Es wäre mit dem Grundsatz der Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage unvereinbar (Bericht des Bundesrates, S. 2).

Was sagt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte?

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat sich in Richtung einer Anerkennung des Rechts auf einen selbstbestimmten Tod unabhängig vom Gesundheitszustand entwickelt. Der Gerichtshof neigt heute dazu, Anträge auf Beihilfe zum Suizid nicht mehr auf der Grundlage des Rechts auf Leben (Art. 2 EMRK), sondern auf der Grundlage des Rechts auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK) zu prüfen, indem er das Recht auf einen selbstbestimmten Tod aus einer extensiven Auslegung des Rechts auf persönliche Autonomie (Art. 10 Abs. 2 BV; Art. 8 EMRK) ableitet.

Laut dem EGMR beinhaltet das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens ein Recht auf freie Wahl des Todes, aber kein Recht, staatliche Hilfe bei der Selbsttötung zu verlangen. Im Fall Haas gegen die Schweiz im Jahr 2011 hatte der Gerichtshof entschieden, dass die Schweiz nicht verpflichtet sei, den Zugang zur Verschreibung von tödlichen Substanzen für Personen, die ihr Leben beenden wollen, zu erleichtern. Die Richter hatten jedoch festgestellt, dass eine Person gemäss dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens das Recht hat zu entscheiden, wie und wann ihr Leben beendet werden soll, vorausgesetzt, sie ist in der Lage, ihren eigenen Willen diesbezüglich frei zu bilden und entsprechend zu handeln (Par. 51).

Im Jahr 2013 entschied der EGMR im Fall Gross gegen die Schweiz, dass es keine positive Verpflichtung der Vertragsstaaten gibt, Einzelpersonen durch gesetzgeberische Massnahmen ein Recht auf Sterben zu garantieren. Dies war der erste Fall, in dem es um den Antrag einer Person auf Beihilfe zum Suizid ging, die ihr Leben beenden wollte, ohne eine Krankheit im Endstadium nachweisen zu können. In diesem Urteil stellte der EGMR jedoch fest, dass die Bedingungen für den Zugang zur Suizidhilfe in der Schweiz nicht klar genug waren und somit gegen Art. 8 EMRK verstiessen. Die Strassburger Richter hatten entschieden, dass eine Person, die nicht an einer Krankheit im Endstadium leidet, Zugang zu klaren Regeln haben müsse, da das Fehlen von gesetzlichen Bestimmungen für die Ausübung der Menschenrechte schädlich sei (Par. 58-60).

Das Recht auf einen selbstbestimmten Tod im Wandel

Bei der Anerkennung des Rechts auf einen selbstbestimmten Tod unabhängig vom Gesundheitszustand ist ein Wandel zu verzeichnen. Nur wenige Länder erlauben den ärztlich assistierten Suizid, doch in den letzten zehn Jahren haben sich immer mehr Rechtsordnungen angeschlossen. In Belgien, den Niederlanden und Luxemburg sind vor kurzem Gesetze über Sterbe- und Suizidhilfe in Kraft getreten, die die medizinisch assistierte Sterbehilfe unter Einhaltung von Sorgfaltskriterien entkriminalisieren. Das niederländische Parlament wird sich in Kürze mit einem Gesetzesvorschlag befassen, der die Beihilfe zum Suizid aufgrund eines "erfüllten Lebens" ab 75 Jahren ohne medizinische Voraussetzungen erlauben soll. Der Text sieht vor, dass die Person, die ihrem Leben ein Ende setzen möchte, urteilsfähig sein muss und dass ein*e Sterbebegleiter*in die Einhaltung mehrerer Bedingungen überprüft.

In der Schweiz hat sich die Bundesgesetzgebung im Bereich der Suizidhilfe seit der Kritik des EGMR im Jahr 2013, in dessen Folge er auf die Richtlinien der SAMW verwiesen hatte (BGE 133 I 58), nicht weiterentwickelt. Im Jahr 2018 wurde eine Revision dieser Richtlinien kritisiert: Die Abkehr vom Kriterium des "unmittelbar bevorstehenden Lebensendes" hin zu "unerträglichem Leiden" sei subjektiver und für Ärzt*innen schwieriger zu definieren, zumal nicht klar sei, ob dieses Leiden rein körperlich sein müsse oder auch psychologischer Natur sein könne.

Angesichts dieser rechtlichen Unklarheit haben die Kantone die Initiative ergriffen. Im Jahr 2014 verankerte der Kanton Neuenburg das Recht, die Modalitäten und den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst zu bestimmen (Art. 35a des Neuenburger Gesundheitsgesetzes). So müssen die als gemeinnützig anerkannten Gesundheitseinrichtungen freien Zugang zu Sterbehilfeorganisationen gewähren, um den möglichen Suizidwunsch der Einwohner*innen verwirklichen zu können. Zwei Stiftungen, die Eigentümerinnen von Pflegeheimen sind, legten beim Bundesgericht Beschwerde ein und verlangten die Aufhebung des Gesetzes, da es ihrer Ansicht nach ihre Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie den Grundsatz der Gleichbehandlung verletze. In seinem Urteil von 2016 wies das Bundesgericht die Beschwerde ab und erkannte an, dass jede Person das Recht hat, die Form und den Zeitpunkt des Lebensendes zu wählen, sofern die betroffene Person in der Lage ist, sich frei zu entscheiden und entsprechend zu handeln (E. 3.2), d. h. urteilsfähig ist (Art. 16 ZGB). Dieses Recht leitet sich aus dem Selbstbestimmungsrecht nach Art. 8 EMRK und der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) ab. Der Kanton Genf wiederum erliess 2018 eine Regelung zur Suizidhilfe, die sowohl gemeinnützige als auch private Einrichtungen dazu verpflichtet, Gesuche um assistierten Suizid anzunehmen (Art. 39A des Genfer Gesundheitsgesetzes), da das Recht auf Selbstbestimmung für alle ansässigen Personen gewährleistet sein muss. Ebenfalls 2018 sprach das Bezirksgericht Uster den Gründer von Dignitas vom Vorwurf der wiederholten Beihilfe zum Suizid (Art. 115 StGB) und des Wuchers (Art. 157 StGB) mit der Begründung frei, dass sein Honorar für drei Sterbebegleitungen nicht auf ein selbstsüchtiges Motiv zurückzuführen sei.

Im Urteil vom 13. März 2024 erklärt das Bundesgericht, dass die Fragen, die sich im vorliegenden Fall stellen würden, von ethischer und moralischer Natur seien. Es sei nicht die Aufgabe der Strafjustiz, hier eine extensive Auslegung der geltenden Gesetzestexte vorzunehmen. Die Bundesrichter*innen appellierten an die Legislative, Anpassungen der Gesetze vorzunehmen, sodass die Verschreibung von Natrium-Pentobarbital an gesunde Personen den gesellschaftlich mehrheitlich akzeptierten moralischen und ethischen Vorstellungen entsprechen.

Im Fall Beck verpasste das Bundesgericht eine Gelegenheit, auf die mangelnde Rechtsklarheit im Bereich der Suizidhilfe hinzuweisen und diese insbesondere für Personen zu klären, die nicht an einer unheilbaren Krankheit oder an funktionellen Einschränkungen leiden. Die Schweiz braucht ein formelles Gesetz, das die Bedingungen und das Verfahren für die Ausstellung eines ärztlichen Rezepts für die Abgabe von tödlichen Medikamenten regelt.

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