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Bern: Unzulässiges Demo-Verbot vor Wahlen und Abstimmungen?

05.01.2016

Im Herbst 2007 kam es auf dem Bundesplatz anlässlich einer Kundgebung im Vorfeld der Eidgenössischen Wahlen zu Ausschreitungen und Angriffen gegen eine SVP-Veranstaltung. Seither verweigerte die Stadt Bern mehrmals die Bewilligung für Kundgebungen vor Wahlen und Abstimmungen. Dies war auch bei einer geplanten Demonstration gegen die sogenannte «Masseneinwanderungsinitiative» der Fall, als die Behörden eine Kundgebung eine Woche vor der Abstimmung im Februar 2014 nicht bewilligten. Diese restriktive Bewilligungspraxis ist nach Ansicht von humanrights.ch sofort zu ändern, weil ein grundsätzliches Demonstrationsverbot vor Wahlen und Abstimmungen eine unzulässige Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit darstellt.

Das Veranstaltungskollektiv der Demonstration, die vor der Abstimmung im Februar 2014 hätte stattfinden sollen, reichte eine Beschwerde gegen den Behördenentscheid ein. Der Gemeinderat wies diese ab und stellte sich hinter den Entscheid der städtischen Behörde. Im Oktober 2015 entschied sodann der Berner Statthalter Christoph Lerch, das Demonstrationsverbot vor der Abstimmung sei rechtens gewesen, obwohl die damalige Begründung der Behörden auf falschen Informationen beruhte und keinesfalls so stichhaltig war, wie dies für die Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit erforderlich gewesen wäre.

Kundgebung gegen die Masseneinwanderungsinitiative nicht bewilligt

Im Vorfeld der Masseneinwanderungsinitiative, die die Stimmberechtigten in der Schweiz am 9. Februar 2014  angenommen haben, wollte das Kollektiv «Bleiberecht Bern» im Rahmen einer Kundgebung dazu aufrufen, gegen die Initiative zu stimmen. Zu diesem Zweck reichte das Kollektiv ein Demonstrationsgesuch ein, welches die städtischen Behörden jedoch  ablehnten. Die Ablehnung des Gesuchs begründeten die Zuständigen mit «sicherheitspolitischen Überlegungen», denn aufgrund der polizeilichen Lageeinschätzung gingen die Stadtbehörden davon aus, dass am selben Tag eine Gegenkundgebung stattfinden würde: Gemäss Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) hatte der Verein «Stopp Kuscheljustiz» am gleichen Tag eine Gegendemonstration geplant.

Kein Einzelfall

Auch im Jahre 2011, als die SP und die SVP vor den Wahlen am selben Tag eine Kundgebung abhalten wollten, entschied der Berner Gemeinderat, die Demonstrationen nicht zu bewilligen. Er hielt zudem fest, dass in den vier Wochen vor dem Wahl-Wochenende keine solchen Kundgebungen mehr stattfinden sollen.

In den Wochen vor den Eidgenössischen Wahlen im Herbst 2015 kam es ebenfalls zu unbewilligten Kundgebungen in der Stadt Bern, auf welche die Polizei mit einem massiven Aufgebot und Gummischrot reagierte. Damals verwies der Gemeinderat auf eine Regelung, wonach vor den Wahlen nur Platzkundgebungen - ausgenommen war der Bundesplatz - erlaubt seien.

Offensichtlich falsche Informationen

Wochen nach der Einreichung des Gesuchs für eine Kundgebung gegen die Masseneinwanderungsinitiative stellte sich jedoch heraus, dass der Verein «Stopp Kuscheljustiz» zu keinem Zeitpunkt ein Demonstrationsgesuch für das entsprechende Datum gestellt hatte, sondern erst für Ende März 2014 eine Kundgebung plante. Ausserdem betonte das Kollektiv «Bleiberecht Bern», dass es sich in seinem Gesuch bezüglich Zeit, Datum und Route flexibel gezeigt habe.

Die städtischen Behörden haben somit die  Kundgebung gegen die Masseneinwanderungsinitiative lediglich mit der Begründung verboten, dass mit Gegendemonstrationen zu rechnen sei.

Statthalter stützt das Demo-Verbot

Im Oktober 2015 (über eineinhalb Jahre nach dem Verbot) stützte der Berner Statthalter den Entscheid der Stadtbehörden und wies die Beschwerde der Veranstalter zurück. Man habe mit Gegendemonstrationen rechnen müssen und gemäss Polizei sei die «Gefahr von gegenseitigen Störungen bis zu Gewaltausbrüchen» wahrscheinlich gewesen.

War das Verbot zulässig?

Sicherheitsdirektor Reto Nause sagte bei der Ablehnung des Gesuchs, das Bundesgericht stütze dieses Vorgehen. Er bezog sich auf ein Urteil des Bundesgerichts, in welchem dieses ein Verbot für eine bestimmte Kundgebung in Brunnen (SZ) gutgeheissen hatte. Nause folgerte aus dem Urteil offenbar, dass ein Verbot immer dann gerechtfertigt ist, wenn die Möglichkeit besteht, dass eine Gegendemonstration stattfinden könnte.

Hält diese Einschätzung der genaueren Betrachtung stand?

Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) hat das Verbot in Bern mit diesem Bundesgerichtsurteil verglichen und die «Zulässigkeit eines Demonstrationsverbotes aufgrund einer geplanten Gegen-Demo» analysiert.

Einschränkungsvoraussetzungen für Grundrechte

Vorab hält das SKMR fest, dass ein Demonstrationsverbot einen Eingriff in die Meinungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 16 und Art. 22 BV) darstellt und deshalb den Einschränkungsvoraussetzungen von Art. 36 BV genügen muss. Dies sei im erwähnten Urteil zum Demonstrationsverbot in Brunnen der Fall, befand das Bundesgericht damals: «Aufgrund der besonderen Umstände erscheine die Verweigerung der Bewilligung daher als einzige Möglichkeit, um die öffentliche Ordnung und Sicherheit aufrechtzuerhalten, und damit als verhältnismässig.»

Keine alternative Möglichkeit?

Das SKMR betont jedoch, dieses Urteil bedeute nicht, «dass ein Demonstrationsverbot stets gerechtfertigt ist, wenn möglicherweise am gleichen Tag eine Gegendemonstration stattfinden könnte.» Es sei vielmehr erforderlich, dass ein Gesuch für eine Gegenveranstaltung vorliege oder diese aufgrund bisheriger Erfahrungen zu erwarten sei. Weiter müsse die Gefahr einer Auseinandersetzung «wahrscheinlich, konkret und ernsthaft» sein und es dürfe keine alternative Möglichkeit bestehen - «wie zum Beispiel durch die Zuweisung unterschiedlicher Demonstrationsrouten oder Örtlichkeiten, durch eine zeitliche Trennung oder durch Schutzmassnahmen der Polizei.» Ein Verbot aufgrund einer drohenden Gegendemonstration ist demnach nur zulässig, wenn ein generelles Demonstrationsverbot das einzige Mittel ist, um der Gefahr von Ausschreitungen wirksam zu begegnen.

Generelles Demonstrationsverbot unzulässig

Das heisst, die Stadtbehörden müssten vor einer Nichtgewährung eines Kundgebungsgesuchs prüfen, ob die Gefahr einer Auseinandersetzung wahrscheinlich, konkret und ernsthaft besteht, bzw. ob nicht eine alternative Möglichkeit besteht. Erst dann wäre ein Demonstrationsverbot zulässig. Es muss ernsthaft bezweifelt werden, dass die Voraussetzungen für die nicht bewilligte Kundgebung in Bern mit der Situation in Brunnen vergleichbar waren.

Aus der Analyse des SKMR geht klar hervor, dass ein grundsätzliches Demonstrationsverbot im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen unverhältnismässig ist und damit eine unzulässige Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit darstellt. Die Stadtberner Behörden sind aufgefordert, ihre diesbezügliche Praxis ab sofort zu ändern.

Dokumentation

Kein Umzugsverbot in der Stadt Bern

(Ergänzender Artikel vom 23.02.2010)

Das Verwaltungsgericht Bern hält das Demonstrationsverbot der Stadt Bern für verfassungswidrig und unverhältnismässig. Umzüge bleiben deswegen erlaubt. Der Rechtsstreit geht auf einen Entscheid des Berner Stadtparlaments von Mai 2008 zurück. Dieses beschloss im Nachgang zu den Ausschreitungen an der Anti-SVP-Demonstration im Herbst 2007, Kundgebungsumzüge grundsätzlich zu verbieten und Demonstrationen auf Platzkundgebungen zu beschränken. Dagegen hatten verschiedene Einzelpersonen, Organisationen und Parteien Beschwerde eingereicht. Die damalige Berner Regierungsstatthalterin Regula Mader hiess diese Beschwerde gut. Sie befand, das verschärfte Kundgebungsreglement widerspreche der kantonalen Verfassung. Doch der Berner Gemeinderat hatte den Entscheid der Statthalterin ans Verwaltungsgericht weiter gezogen. Dieses hat nun am 18. Februar 2010 die Beschwerde der Stadt abgewiesen.

Die Stadt akzeptiert den Entscheid und zieht das Urteil nicht an die nächste Instanz weiter.

Dokumentation