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Kein Recht auf friedlichen Protest bei Misswahlen in der Stadt Bern?

04.12.2014

Am Rande der Miss-Schweiz-Wahl, die am 11. Oktober 2014 in einem durchsichtigen Grosszelt auf dem Berner Bundesplatz stattfand, haben rund 20 junge Menschen gegen die Veranstaltung demonstriert. Dabei kam es zu einem Polizeieinsatz, der in der Bundesstadt auch fast zwei Monate später noch zu reden gibt.

Zu Recht, denn das Verhalten der Behörden zeigt nach Ansicht von humanrights.ch einen Trend, der immer augenfälliger wird: Die Stadtberner Behörden bzw. die Berner Kantonspolizei begegnen Demonstrationen und Protestaktionen in der Innenstadt, seien sie auch noch so klein, nicht nur mit Restriktionen, sondern zunehmend mit unverhältnismässiger Repression.

War der Einsatz verhältnismässig?

Im vorliegenden Fall haben junge, teilweise minderjährige Personen mit Plakaten gegen die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums und gegen Sexismus protestiert. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der friedlichen Spontankundgebung sind nach wenigen Minuten von Polizeibeamten mündlich weggewiesen worden. Diese Massnahme, die in die Grundrechte der Protestierenden eingreift, sieht das kantonale Polizeigesetz (Art. 29 PolG) vor, wenn der begründete Verdacht besteht, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet ist. 

Die Protestierenden widersetzten sich offenbar der Aufforderung, sich zu entfernen, zuerst mit einem Sitzstreik und dann mit weiteren Störaktionen. Bald darauf führten die Polizeibeamten sie ab, verbrachten sie auf den Polizeiposten Neufeld, wo sie in den für Grossdemonstrationen vorgesehenen Festhalte-Zellen untergebracht wurden. Dem Vernehmen nach widersetzten sich auch dort einige der Festgenommenen den Anweisungen der Polizei. Die Beamten ordneten sodann in mehreren Fällen Leibesvisitationen mit vollständigem Ausziehen an. Weshalb, ist bisher nicht klar.

Gemäss der gesetzlichen Grundlage müssen solche Ganzkörperdurchsuchungen im Einzelfall begründet sein und die Entkleidung ist nur zulässig, «wenn dies für die Abwehr einer Gefahr für Leib und Leben unerlässlich ist» (Art. 36 PolG). Zu guter Letzt sind sieben Demonstrationsteilnehmer/innen zur Abgabe von DNA-Proben aufgefordert worden; die Staatsanwaltschaft segnete dies noch am selben Abend ab. Rechtens wäre dies, wenn die Identität einer Person nicht anders festgestellt werden kann oder wenn es zur Aufklärung eines Verbrechens oder Vergehens nötig ist (Art. 255 StGB).

Bedeutende Eingriffe in die Grundrechte

Das Vorgehen der Polizei ist kurz nach dem Einsatz in den Medien kritisiert worden. Problematisch sind insbesondere die Anordnungen zu Leibesvisitationen und DNA-Abgaben. Diese sind ein schwerer Eingriff in die Grundrechte der betroffenen, teilweise minderjährigen Personen, deren einziges Vergehen die Teilnahme an einer unbewilligten Protestaktion war.

Offenbar war sich mindestens die Leitung des Polizeikorps bewusst, dass die Anordnungen nicht unproblematisch waren und die Vorwürfe schwer wiegen. Der Polizeikommandant beauftragte die Staatsanwaltschaft, die Vorfälle vom Abend des 11. Oktobers 2014 zu untersuchen. Unterdessen hat die Staatsanwaltschaft eine Strafuntersuchung wegen des Verdachts auf Amtsmissbrauch und eventuell Nötigung eingeleitet, wie die Berner Zeitung am 1. Dezember 2014 berichtete.

Dem Vernehmen nach waren an besagtem Abend ausschliesslich polizeiliche Sicherheitsassistenten im Einsatz, die normalerweise für den Botschaftsschutz besorgt sind. Die Untersuchung der Staatsanwaltschaft sollte also vor allem auf polizeiinterne Abläufe fokussieren und dabei insbesondere klären, wer genau die Anordnung für Leibesvisitationen und ähnlich schwere Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte von Festgehaltenen geben darf.

Der Gemeinderat ist zu zurückhaltend

Mehrere Stadträtinnen und Stadträte haben im Oktober 2014 dringende parlamentarische Anfragen zu den Vorkommnissen am Rande der Miss-Schweiz-Wahl eingereicht. Der Gemeinderat hat diese Anfragen unterdessen beantwortet und am 1. Dezember veröffentlicht. Leider nutzt die Stadtregierung diese Gelegenheit nicht, um zu den Vorkommnissen politisch Stellung zu nehmen.

Zwar schreibt der Gemeinderat, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sei ein «hohes demokratisches Gut» und es sei ein «zentrales Anliegen», dass bei Polizeieinsätzen die Verhältnismässigkeit gewahrt bleibe. Doch deuten die Aussagen zu den konkreten Ereignissen am 11. Oktober an, dass in der Stadtregierung wenig Sensibilität besteht für die Pflichten, welche diese Grundrechte für die Behörden mit sich bringen. Für die Regierung ist die Miss-Schweiz-Wahl ein Ereignis von nationaler Bedeutung, das für die Stadt von grosser Bedeutung sei. Es sei richtig gewesen, «die bewilligte Veranstaltung gegen Störungen zu schützen», schreibt der Gemeinderat und weist darauf hin, der Vorwurf, die Veranstaltung sei sexistisch, sei «nicht nachvollziehbar».

Kommentar

Vieles deutet darauf hin, dass das Verhalten der Ordnungskräfte an besagtem Abend unverhältnismässig war. Die Frage, ob es für die Polizei bei einer derart kleinen Gruppe von friedlichen Demonstrierenden keine Möglichkeit gab, die Proteste gewähren zu lassen und gleichzeitig die Durchführung des Anlasses ohne ernsthafte Probleme zu gewährleisten, drängt sich auf. Es bleibt der Eindruck, dass die Behörden schlecht vorbereitet waren oder ein Exempel statuieren wollten. Der Bundesplatz in Bern ist nicht irgendein Platz, sondern der zentrale Platz für die öffentliche politische Meinungsäusserung. Eine Grossveranstaltung im Stile der Miss Schweiz Wahl löst kontroverse Reaktionen aus, damit war zu rechnen. Proteste zeichneten sich im Vorfeld auch ab, denn in der Folge des Entscheids des Gemeinderats entbrannte in den Berner Medien eine Debatte über die zunehmende Kommerzialisierung des Bundesplatzes.

Es fällt dem Berner Gemeinderat im Verbund mit der Kantonspolizei offensichtlich schwer, der Versammlungsfreiheit das Gewicht beizumessen, das sie gegenüber andern Interessen im öffentlichen Raum verdient. Grossanlässe nehmen zu, Demonstrationen werden vermehrt an die Peripherie der Stadt verlegt, nicht bewilligt oder die Ordnungskräfte gehen rigoros gegen sie vor. Die Menschenrechte verpflichten die Behörden (nicht nur die Polizei) allerdings dazu, Proteste zu schützen und zu ermöglichen (siehe hierzu etwa die UNO-Resolution über friedliche Proteste oder die OSZE-Guidelines für friedliche Proteste (Englisch)). Dazu gehören deeskalierende Verhaltensweisen und der Dialog mit Protestierenden oder den Organisatoren/-innen.

Im Rahmen der Selbstevaluation der Schweiz zu den OSZE-Verpflichtungen haben sich die Behörden u.a. in Bezug auf die Versammlungsfreiheit kürzlich ein gutes Zeugnis ausgestellt. Kluger Rat: Genauer hinschauen und die bestehenden Einsatzdoktrinen im Lichte der internationalen Vorgaben revidieren.

Dokumentation

Weiterführende Informationen