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Videoüberwachung in der Schweiz - unübersichtlich oder gar nicht geregelt

06.08.2018

Wenn heute von Videoüberwachung gesprochen wird, so ist den meisten bewusst, dass Videokameras sowohl in privaten Bereichen wie in Einkaufszentren, am Arbeitsplatz, im Aussenbereich von Privathäusern als auch im öffentlichen Raum, auf Plätzen, an Strassen, Bahnhöfen, Flughäfen etc. installiert sind. Die stetige Zunahme der Anzahl an Überwachungskameras geht einher mit neuen technologischen Entwicklungen, welche mit den Stichworten «intelligente Kameras» und «Gesichtserkennung» benannt werden. Bereits heute kann ein Netzwerk von mehreren Videokameras gemeinsam Bewegungsprofile erstellen und einer Person auf diese Weise folgen.

Der Schutz der Privatsphäre

Wenn immer Daten der Videoüberwachung, auf denen Personen erkennbar sind, bearbeitet werden, wird in das Grundrecht auf persönliche Freiheit und insbesondere in die Privatsphäre dieser Personen eingegriffen.

Bilder einer Überwachungskamera, auf denen Personen erkennbar sind, gelten dementsprechend als Personendaten im Sinne von Art. 3 lit. a des Bundesgesetzes über den Datenschutz vom 19. Juni 1992 (DSG; SR 235.1). Nur Videoüberwachungen, welche besonders sensible Personendaten betreffen, müssen vorab durch den zuständigen Datenschutzbeauftragten bewilligt werden. Besonders sensible Daten sind Personendaten, welche dem Erstellen von Bewegungs- oder Persönlichkeitsprofilen dienen. Eine Weitergabe von Personendaten ist stets nur dann zulässig, wenn dafür entweder eine gesetzliche Grundlage, ein überwiegendes privates oder öffentliches Interesse oder die Einwilligung der betroffenen Person vorliegt (Art. 12 und Art. 13 DSG). Ein solch öffentliches Interesse kann beispielsweise die Verfolgung von Straftaten sein.

Ein Flickenteppich

Während der Schutz der persönlichen Freiheit in der Bundesverfassung - sowie in der EMRK - verankert ist, sind Umfang und Modalitäten der legalen Videoüberwachung in sehr verschiedenen nationalen, kantonalen und sogar kommunalen Regelungen festgeschrieben. Die Videoüberwachung durch Private und die Bundesverwaltung ist grösstenteils auf Bundesebene im Datenschutzgesetz geregelt; die Videoüberwachung durch kantonale und kommunale Behörden, z.B. die Kantonspolizei, unterliegt der kantonalen Gesetzgebung (vor allem dem kantonalen Datenschutz- und dem Polizeigesetz). Die Umsetzung im Detail wird in kommunalen Betriebsreglementen definiert. Es existiert also ein ganzer Flickenteppich an Regelungen. Auch der eidgenössische Datenschützer Lobsiger diagnostiziert in einem Interview mit der NZZ eine «Rechtszersplitterung».

Der Ständerat hatte es 2007 abgelehnt, eine rechtliche Grundlage für die Videoüberwachung, eine Art «Videoüberwachungsgesetz» auf Bundesebene zu schaffen. Er verwarf eine entsprechende Motion von Pierre Bonhôte (SP, NE). Der Bundesrat empfahl den Kantonen und Gemeinden stattdessen in einem Bericht, bei ihren Überwachungsaktivitäten die Verfassung zu beachten und allfällige Lücken im Gesetz verfassungskonform, d.h. gemäss den allgemeinen Grundsätzen bei Grundrechtseingriffen, zu schliessen.

Kantonale Regelungen

Ein Leitfaden des Zürcher Datenschützers vom November 2017 benennt im Einzelnen die rechtlichen Anforderungen an eine legale Videoüberwachung durch öffentlich-rechtliche Akteure. Ähnliche Merkblätter wurden auch von den Datenschützern der Kantone Baselland und Luzern erarbeitet.

Grundsätzlich gilt, dass ein öffentliches Organ Daten bearbeiten darf, die es zur Erfüllung seiner Aufgaben benötigt (Art. 8 Abs. 1 IDG ZH). Es muss also eine Zweckbindung gegeben sein. Da es sich bei Videodaten zumeist um besondere Personendaten handelt, muss eine gesetzliche Grundlage in Form einer hinreichend bestimmten Regelung in einem formellen Gesetz vorliegen (Legalitätsprinzip: Art. 8 Abs. 2 IDG ZH). Sollen Daten regelmässig an ein anderes öffentliches Organ weitergegeben werden, muss auch dieser Datenfluss gesetzlich geregelt sein (Art. 16 und 17 Abs. 1 IDG ZH). Zudem ergibt sich aus dem Verhältnismässigkeitsprinzip (Art. 8 Abs. 1 IDG), dass digitale Datenflüsse (File Transfer, Pull- oder Push-Dienste, Abrufverfahren usw.) nur die Daten beinhalten dürfen, die für die Aufgabenerfüllung des Datenempfängers geeignet und erforderlich sind.

Führt ein öffentliches Organ eine Videoüberwachung durch, so ist es in jedem Fall für die Einhaltung des Datenschutzes verantwortlich. Dies gilt auch, wenn das öffentliche Organ die Videoüberwachung durch eine Privatfirma durchführen lässt. In diesem Fall hat das öffentliche Organ dafür zu sorgen, dass diese Privatfirma die Datenschutzauflagen einhält.

Die «entfesselte» Videoüberwachung - keine Dystopie

Bereits 2007 warnte der damalige Datenschützer Baeriswyl vor der Automatisierung der Überwachungstechnologie. Gemeint hat er damit allem voran die Gesichtserkennungssoftware, welche imstande ist, Aufnahmen von Gesichtern aus Überwachungskameras mit beliebigen Datenbanken abzugleichen, gewissermassen eine «Videoüberwachung plus».

Im Jahr 2018 ist die intelligente Kamera längst eine internationale Realität geworden. In Ländern wie China, Grossbritannien oder Deutschland steht die Gesichtserkennung zu staatlichen Überwachungszwecken heute im Einsatz. Gemäss Berichten der WOZ half 2017 am Champions-League-Final in Cardiff eine Software des japanischen Elektronikkonzerns NEC, alle Menschen im Umfeld des Stadions mit einer Liste von 500’000 verdächtigen Unruhestiftern abzugleichen. Und auch im Rahmen der G20-Proteste setzt die Hamburger Polizei auf Gesichtserkennung: Mit der Software Face-Vacs der deutschen Cognitec wurden Dutzende Terabyte Videomaterial nach mutmasslichen Straftätern/-innen durchforstet.

Ohne potente Datenbanken ist Gesichtserkennung freilich nutzlos. Doch auch in der Schweiz bestehen umfassende Register, die man zu diesem Zweck anzapfen könnte. Das grösste davon ist die Ausweisdatenbank mit ihren biometrischen Daten (ca. 4 Millionen Datensätze). In einem Testversuch am Flughafen Zürich in Zusammenarbeit mit der Zürcher Kantonspolizei dienen die biometrischen Daten bereits heute dem sogenannten Gesichtsscreening. Gemäss einem SRF-Bericht vom 20. Februar 2018 kontrolliert eine intelligente Kamera anhand gewisser Orientierungspunkte auf dem Gesicht einer Person (Abstand Nase-Mund-Ohren), ob es sich beim Passagier auch tatsächlich um die Person im biometrischen Pass handelt und ob Terrorgefahr von der Person ausgeht. Mitunter ein Grund, wieso seit 2002 auf Passfotos nicht mehr gelächelt werden darf, denn das verfälscht die Abstände.

Der Schritt von der intelligenten Flughafenkamera zur technologisch aufgerüsteten Strafverfolgung ist ein kleiner. Gemäss der Kantonspolizei Bern könnten künftig Bilder, die im Rahmen von erkennungsdienstlichen Behandlungen anfallen, zur Gesichtserkennung verwendet werden. Auch ist die Vorstellung nicht weit hergeholt, dass zu Fahndungsszwecken die Ausweisfotos von ausgeschriebenen Personen mit Gesichtserkennungs-Überwachungskameras von öffentlichen Plätzen verknüpft werden. Denkbar ist, dass solche Praktiken immer mehr ausufern, so dass beispielsweise Personen, die mit einem Rayonverbot belegt sind, einen Alarm bei der Polizei auslösen, wenn sie in ihnen verbotenen Territorien gesichtet werden. Die im Rahmen der kantonalen Bedrohungsmanagements neu geschaffenen Gefährder-Datenbanken eröffnen in Verbindung mit Gesichtserkennungskameras ganz neue Möglichkeiten für die Überwachung von «potenziell gefährlichen Personen». Wenn sich die Grenze zwischen Präventionsmassnahmen und Strafverfolgung aufweicht, ergibt sich ein sehr gefährlicher Mix für die Grundrechte (vgl. unseren Artikel dazu).

Ähnliche Befürchtungen äusserte Patrick Walder von Amnesty International in der WOZ vom 19. April 2018: «Die flächendeckende Anwendung von Gesichtserkennung stellt einen massiven Eingriff in die Grundrechte dar. Sie ist eine Form der verdachtsunabhängigen Massenüberwachung, die aus menschenrechtlicher Sicht nicht zulässig ist. »

Ein früher Pilotversuch

Bereits 2002-2003 (!) hat am Flughafen Zürich-Kloten ein Pilotversuch mit dem System FAREC zur Gesichtserkennung stattgefunden. Ziel war es, abgewiesene Asylbewerber/innen ohne Papiere vor ihrer Einreise in die Schweiz abzufangen, gibt der Bundesrat freimütig in seiner Antwort auf die Interpellation von Alex Heim (CVP) zu.  Der Vergleich von biometrischen Daten sollte darüber Aufschluss geben, ob und allenfalls woher eine Person bereits einmal nach Zürich gereist ist. Die Massnahme sollte dazu dienen, den Herkunftsort der Person zu ermitteln und damit deren allfällige Rückführung zu erleichtern. Voraussetzung für die definitive Einführung ist aufgrund von datenschutzrechtlichen Bedenken eine formell-gesetzliche Grundlage. Diese bestand bei Versuchsdurchführung nicht, wurde aber mit der Annahme der Totalrevision des Ausländergesetzes (Art. 103 Abs. 5 AuG) geschaffen. Allerdings finden sich keine Hinweise, dass der Pilotversuch später in eine reguläre Praxis überführt worden ist.

Einführung durch die Hintertür: Der Fall Badeamt Zürich

Banaler erscheint, was sich unlängst in der Stadt Zürich zugetragen hat: Über Weihnachten 2017 startete das Sportamt der Stadt Zürich einen Versuchsballon. In ihrem neuen Videoreglement war in einem unscheinbaren Nebensatz die Rede davon, die Funktion der Gesichtserkennung einzuführen. Doch weil das Sportamt schon bisher und illegalerweise (ohne rechtliche Grundlage) Videoaufnahmen in gewissen Sportanlagen machte, war der Schaden angerichtet. Momentan sind wegen eines Rekurses alle Videoanlagen in Zürichs Sport- und Badeanlagen ausgeschaltet.

Dennoch: Vorgesehen ist dereinst die Videoüberwachung in elf Sport- und Badeanlagen. Gemäss Recherchen der Lokalinfo betreibt die Stadt Zürich nicht dutzende, sondern tausende Videokameras mit fast flächendeckender Ausbreitung. Das Potenzial ist dementsprechend riesig, und der Bedarf an automatischer Auswertung von so viel Bildmaterial scheint gross. Mögliche weitere Einsatzgebiete: Fangewalt zwischen militanten Anhängern von FCZ und GC oder der Ruf nach mehr Kontrolle bei der Hausbesetzerszene sowie bei unbewilligten Demonstrationen.

Rechtsrahmen schaffen

Der Bund muss, will er mit den rasant wachsenden technologischen Möglichkeiten wie der Gesichtserkennung mithalten, ein mutiger Gesetzgeber sein. Dazu gehört, dass er seine Bürger/innen angemessen schützt und dass er der Technologiebranche und den eigenen Polizeibehörden und Sicherheitsberatern Grenzen setzt.

Datenschutz-Revision in Etappen

Die Privatsphäre von Herrn und Frau Schweizer ist durch das derzeitige Datenschutzgesetz (DSG) nur ungenügend geschützt. Denn es ist mehr als 20-jährig – also aus den Urzeiten des Internets - und wurde seither nur stellenweise an neue Gegebenheiten angepasst. Der Schutz der Privatsphäre in der Schweiz ist überholt und nicht ans Zeitalter der Hyperkonnektivität angepasst.

2011 beauftragte der Bundesrat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) damit, Massnahmen zur Stärkung des Datenschutzes zu prüfen und bis Ende 2014 Vorschläge zum weiteren Vorgehen zu unterbreiten. Ende 2016 schickte der Bundesrat einen Vorentwurf in die Vernehmlassung, im Herbst 2017 folgten die Botschaft und der Entwurf zur Totalrevision des Schweizer Datenschutzgesetzes.

Dabei sorgt man sich in Bundesbern nicht in erster Linie um die Daten der eigenen Bürger/innen, sondern um die Konformität mit EU-Regelungen im Bereich der Strafverfolgung. Dementsprechend entschied die SPK-N im Januar 2018, die Totalrevision in zwei Teilschritten anzugehen: Zuerst berät die Kommission über die Anpassung der Schengener Abkommen, erst danach über das eigentliche Datenschutzgesetz für die Bevölkerung, die Wirtschaft und die Bundesbehörden. Der Nationalrat stimmte dem Vorgehen in der Sommersession 2018 grundsätzlich zu.

Die Einführung einer zentralen Richtlinie zur Videoüberwachung in Form eines Videoüberwachungsgesetzes auf Bundesebene wäre, nebenbei bemerkt, noch immer eine sinnvolle Massnahme.

Kommentar: Den Überwachungsmöglichkeiten Einhalt gebieten

Dank immer neuen Spezialerlassen des Bundesrates, in diesem Fall die polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus, soll in Zukunft gegen bestimmte Personen, denen terroristische Absichten unterstellt werden, härter vorgegangen werden. Dabei wird die sicherheitsbehördliche Datenbearbeitung zunehmend auf präventiv erfasste Personenkategorien wie die Gefährder/innen ausgeweitet. Die durch den Staat ausgewerteten Datenmengen werden immer grösser. Es ist nur logisch, dass er dies mit den effizientesten ihm technisch zur Verfügung stehenden Mitteln tun würde. Dazu werden schon sehr bald intelligente Videokameras mit integrierter Gesichtserkennung gehören.

Der Schweizer Gesetzgeber muss daher die Frage der privaten und der staatlichen Nutzung der digitalen Gesichtserkennung jetzt angehen, bevor sie sich in der Praxis mangels klarer Regeln selbst etabliert hat. In der Auffassung von humanrights.ch müssen die staatlichen Anwendungen der Gesichtserkennung grundsätzlich verboten werden, da sie viel zu intrusiv für die persönliche Freiheit aller Bürger/innen sind. Niemand kann eine intelligente Videokamera im öffentlichen Raum vermeiden, ohne den gesamten öffentlichen Raum meiden zu müssen.

Trotz technologischem Fortschritt sollten wir nie vergessen, dass es die absolute Sicherheit nicht gibt und dass die nahezu perfekte Sicherheit einen zu hohen Preis von uns allen fordert. In einem Rechtsstaat kann es keinen «lückenlosen» Schutz vor Gefahren und keine «lückenlose» Aufklärung von Straftaten geben.