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Rassismus - Dossier

Definitionen

28.11.2023

Es gibt keine universelle und absolute Definition von Rassismus und die Bedeutung dieses Begriffs ist Gegenstand zahlreicher Debatten. Es ist zwar möglich, zwischen einer weiten und einer engen Bedeutung zu unterscheiden, doch werden diese oft verwechselt oder falsch verwendet.

Klassisches Konzept des Begriffs «Rassismus» (enge Bedeutung)

Die «klassische» Definition des Rassismus stützt sich auf die Ideologie des «biologischen» Rassismus, welcher Menschen pseudowissenschaftlich in eine Hierarchie von genetisch vererbten «Rassenkategorien» mit vermeintlich unveränderbaren Eigenschaften einstuft. Diese pseudo-biologische Ideologie war in der Zeit des europäischen Kolonialismus und Imperialismus vorherrschend und hielt sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie diente als Rechtfertigung für Kolonialismus, Sklaverei sowie für die Verbrechen des Nationalsozialismus und des Apartheidregimes. Die Vorstellung einer biologischen Überlegenheit ist seit dem Holocaust weitgehend diskreditiert.  

Verallgemeinertes Konzept des Begriffs «Rassismus» (weite Bedeutung)

Rassismus bezeichnet die absichtliche oder unbewusste Hierarchisierung von Personen oder Bevölkerungsgruppen, die in den Strukturen, der sozialen Dynamik und den Institutionen verankert ist und zu Herrschaftsverhältnissen, Ausgrenzung und Privilegien führt oder diese aufrechterhält. Rassismus wird heute nicht mehr biologisch, sondern kulturell begründet: Man neigt eher dazu, sich auf die Idee der Starrheit und Unvereinbarkeit bestimmter kultureller, nationaler, religiöser, ethnischer oder anderer Besonderheiten zu berufen (Wieviorka 1998, S. 33).

Der französische Soziologe Albert Memmi definierte Rassismus in diesem Zusammenhang als «die allgemeine und endgültige Bewertung tatsächlicher oder eingebildeter Unterschiede zum Vorteil des Anklägers und zum Nachteil des Opfers, um einen Angriff oder ein Privileg zu rechtfertigen» (Albert Memmi, Gallimard, 1982).

So lässt sich Rassismus als ein System von Diskursen und sozialen Praxen definieren, das historisch entwickelte Machtverhältnisse, Ausgrenzungen und Privilegien legitimiert und reproduziert. Damit werden Menschen nicht als Individuen, sondern als Mitglieder pseudo-natürlicher Gruppen mit kollektiven, als unveränderbar betrachteten Eigenschaften beurteilt und behandelt. Rassismus lässt sich nicht allein auf (böswilliges) Handeln einzelner Menschen zurückführen. Er wird historisch, sozial und kulturell vermittelt und prägt gesellschaftliche Strukturen, Institutionen und Dynamiken. Deswegen ist Rassismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen zu betrachten und muss als solches adressiert werden.

Der Begriff «Rasse»

Die «Rasse» im Sinne der rassistischen Ideologie, nach der es eine angeblich naturgegebene Hierarchie zwischen Gruppen von Menschen gibt, existiert nicht. Jedoch produziert und verbreitet die rassistische Ideologie diesen Begriff, um die Herrschaft von sozialen Gruppen über andere zu rationalisieren.

Während sich einige Staaten weigern, diesen Begriff zu verwenden, wird in der angelsächsischen Welt seit den 1920er Jahren der Begriff «race» verwendet, um auf ein soziales und politisches Konstrukt zu verweisen. Im Deutschen wird vermehrt der Begriff «Rassifizierung» verwendet, um die Historizität und soziale Konstruktion von «race» zu betonen. Er bezeichnet den Prozess der Klassifizierung von Individuen in hierarchisch geordnete Gruppen basierend auf tatsächlichen oder zugeschriebenen Merkmalen. Der Begriff «race» kann im Singular verwendet werden, wenn er ein Machtverhältnis bezeichnet, das den sozialen Platz strukturiert, der einer Gruppe im Namen ihrer vermeintlichen (geografischen, kulturellen oder religiösen) Herkunft zugewiesen wird.

Wie die meisten europäischen Gesetzgebungen verwendet auch die Schweizer Verfassung den Begriff «Rasse». Der Bund stellt klar, dass er sich nicht auf eine biologische Kategorie bezieht, und argumentiert, dass die Abschaffung dieses Begriffs die Existenz von Rassismus und Rassendiskriminierung als konkrete Erfahrungen der Opfer und damit die Notwendigkeit der Bekämpfung dieser Phänomene in Frage stellen könnte.

Juristischer Begriff

Auch im Recht gibt es keine einheitliche und formale Definition von Rassismus. In der Rechtspraxis soll der Begriff «rassistische Diskriminierung» Ungleichbehandlungen, Äusserungen oder Gewalttaten, die bewirken oder beabsichtigen, dass Menschen wegen ihrer äusseren Erscheinung, ihrer Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Religion herabgesetzt werden, bezeichnen. Die Strafnorm gegen rassistische Diskriminierung stellt nicht alle Erscheinungsformen von Rassismus unter Strafe. Sie beschränkt sich auf Aufrufe zu Hass oder Diskriminierung; auf die Verbreitung von Ideologien, die eine Person oder Gruppe systematisch verleumden oder herabsetzen; auf rassistische Beleidigungen, Gesten, Tätlichkeiten oder andere rassistische Verhaltensweisen, die die Menschenwürde verletzen. Dazu gehört auch die Leugnung, Verharmlosung oder Rechtfertigung von Völkermord und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Verweigerung einer Leistung, die für den öffentlichen Gebrauch bestimmt ist.

Rassistische Diskriminierung ist sowohl ein Prozess als auch ein Ergebnis: Sie kommt in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zum Ausdruck, beim Zugang zu Bildung, Gesundheit, Arbeit, Wohnraum, am Arbeitsplatz, in Verbänden und Gewerkschaften sowie in der Justiz und bei der Polizei (Wieviorka 1998, S. 64).

Rassismus und Kolonialismus 

Die im 19. Jahrhundert in Europa entstandene Ideologie des Kolonialismus ermöglichte die Ausbeutung von Gebieten und Menschen, welche als wirtschaftlich, technologisch und kulturell «unterentwickelt» wahrgenommen wurden. Um die Kolonialisierung zu rechtfertigen, erfanden die Kolonialreiche Hierarchien nach mehr oder weniger definierten Kriterien wie Sprachen, «Ethnien», «Rassen», Religionen etc. Die globale Wirkungsmacht und die Dauer des europäischen Kolonialismus ermöglichten die Verbreitung des Nationalstaats als das Modell für politische Organisation. Dieser beruhte auf die weiss-bürgerliche Auffassung von universalen Menschenrechten sowie den Kapitalismus als wirtschaftliche Norm. Durch die Ausbeutung der afrikanischen Küsten wurden Millionen von Schwarzen Menschen versklavt. Die Schweiz besass keine Kolonien. Sie profitierte aber vom Kolonialismus und wurde von den Kolonialmächten geschützt, um ihre wirtschaftliche Position in der Welt zu festigen. So waren Schweizer Staatsangehörige und Unternehmen in fast allen Phasen des Handels involviert, indem sie das Kapital für die Expeditionen bereitstellten, Aktien europäischer Gesellschaften hielten und an der politischen Führung der Kolonialgesellschaften teilnahmen.

Die Entkolonialisierung begann Ende des Zweiten Weltkriegs nach zahlreichen Revolten und organisierten Kämpfen. Wie schnell sich die Entkolonialisierung entwickelte, variierte je nach den Zielen und Methoden der Kolonialmächte sowie dem regionalen geopolitischen Kontext. Das Ende der Kolonialzeit bedeutete jedoch nicht das Ende der Unterdrückung und Ausbeutung der kolonisierten Gebiete – vielmehr nahm die Herrschaft als Folge der kolonialen Strukturen neue Formen an. So bezeichnet der Neokolonialismus ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis eines Staates zu einem anderen Staat, ohne dass es sich dabei um eine formale, rechtliche oder politische Abhängigkeit handelt. Der Begriff bezieht sich auf das Fortbestehen kolonialer Strukturen nach dem Ende der formalen kolonialen Herrschaft. Die Abhängigkeit kann wirtschaftlich sein – in Zusammenhang mit Unternehmen und Kapitalflüssen – kulturell – durch eine Hegemonie in Film, Kunst und Literatur – oder wissenschaftlich – insbesondere durch das Patentmonopol.

Formen von Rassismus 

Interpersoneller Rassismus

Interpersoneller Rassismus bezieht sich auf Personen, die Handlungen gegen andere Personen aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft oder «Ethnie», Religion oder Nationalität begehen oder Hassreden halten. Dies kann aufgrund von bewussten oder unbewussten Vorurteilen oder stereotypischen Vorstellungen der Fall sein. In diesem Zusammenhang ist der sogenannte «moralische», «absichtliche» oder «primäre» Rassismus zu erwähnen, der aufgrund der ideologischen Vorstellung und eines mehr oder weniger expliziten Gefühls von Überlegenheit verübt wird.

Interpersonelle rassistische Vorfälle werden zwar weitgehend von einem institutionellen Kontext beeinflusst, doch sind es auch Einzelpersonen, die administrative Massnahmen und die Anwendung von Gesetzen veranlassen und rassistische Vorurteile und Handlungen aufrechterhalten..

Struktureller oder systemischer Rassismus 

Rassismus ist nicht nur das Produkt individueller Meinungen, sondern auch in den sozialen Beziehungen und der Organisation der Gesellschaft, der Institutionen und des Staates verankert. Daher kann er als «systemisch» oder auch als «strukturell», «institutionell» oder «herrschaftlich» bezeichnet werden. Dieses Konzept konzentriert sich auf Wissensbestände, gesellschaftliche Normen und Praktiken, die die Reproduktion von Herrschaft aufrechterhalten und bestimmte Bevölkerungsgruppen vor allem beim Zugang zu Ressourcen (Bildung, Wohnen, Arbeit, Gesundheit) benachteiligen. Auch der institutionelle Rassismus ist Teil von routinemässigen Mechanismen, die die Dominanz und Unterordnung von Bevölkerungsgruppen sicherstellen, ohne dass jemand sie theoretisieren muss. So entsteht ein allgemeines System der Diskriminierung, das sich selbst aufrechterhält (Wieviorka, 1998, S. 27-28). 

Alltagsrassismus 

Alltagsrassismus drückt sich im alltäglichen Leben meist routinemässig, subtil und unbewusst aus. Alltagsrassistische Handlungen bleiben oft unhinterfragt und sind weitgehend normalisiert. Rassistische Vorstellungen und Praktiken werden bereits im Kindesalter erlernt und verinnerlicht sowie kontinuierlich und unbewusst reproduziert. Alltagsrassistische Handlungen fallen Nicht-Betroffenen kaum auf – für von Rassismus betroffene Menschen schaffen sie jedoch eine Realität, die von Ausgrenzung und Abwertung geprägt ist. Zum Alltagsrassismus gehört auch, dass Nicht-Betroffene sich ihrer Privilegien mehrheitlich nicht bewusst sind, wodurch auch diese unreflektiert bleiben. 

Diskriminierung aus der Perspektive der Intersektionalität 

Intersektionale Diskriminierung liegt vor, wenn sich mehrere Formen der Ausgrenzung überschneiden und so eine spezifische Form von Diskriminierung hervorrufen, die ohne dieses Zusammenwirken nicht auftreten würde. Das Konzept der Intersektionalität zielt darauf ab, Analysen zu vermeiden, welche die Erfahrungen von Menschen isolieren sowie homogenisieren: Der Fokus wird auf die Überschneidungen unterschiedlicher Machtverhältnisse gelegt. Eine Schwarze Frau zum Beispiel erlebt Herrschaftsverhältnisse, die unter anderem durch die Verschränkung von Rassismus und Sexismus hervorgehen. Sie hat somit eine spezifische Betroffenheit, die in ihrer Besonderheit erkannt und benannt werden muss, um ihre Diskriminierungserfahrung tatsächlich adressieren zu können. Auch Privilegien sollten aus einer intersektionalen Perspektive betrachtet werden, um verstehen zu können, wie das Zusammenwirken von verschiedenen gesellschaftlichen Positionierungen spezifische Machtpositionen hervorbringen. Intersektionalität erlaubt es somit, die mehrfachen Zugehörigkeiten von Menschen zu berücksichtigen und eine differenzierte und effektive Machtkritik zu erarbeiten.

Die Folgen von Rassismus

Rassismus äussert sich unterschiedlich in Vorurteilen, Stereotypen oder (Mikro- und Makro-)Aggressionen sowie «othering», einem Mechanismus, der Menschen als «anders» konstruiert und beurteilt. Er zeigt sich auch in Formen interpersoneller, institutioneller und struktureller Diskriminierung, direkter und indirekter Diskriminierung, rassistisch motivierten Straftaten (Hassverbrechen) und Äusserungen oder Schriften, die zu Gewalt, Hass oder Diskriminierung aufrufen (Hassreden).

Insbesondere in der Arbeitswelt, im Wohnen, in der Justiz, im Gesundheitswesen und in der Bildung werden Rassismus und damit zusammenhängende Formen von Diskriminierung (re-)produziert und aufrechterhalten. Die UNO-Expert*innengruppe für Menschen afrikanischer Abstammung zeigte sich bei ihrem Besuch in der Schweiz im Januar 2022 besorgt über die Situation des strukturellen Rassismus und der damit zusammenhängenden Kultur der Leugnung davon. Für die Betroffenen ist die Erfüllung der Grundbedürfnisse nach Anerkennung, Zugehörigkeit und Sicherheit herausfordernd: Ständig mit Diskriminierung konfrontiert zu sein, ist anstrengend und löst oft negative Emotionen wie Hilflosigkeit, Wut, Angst und Stress aus. Dies kann zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen führen und hat nicht selten Isolation und ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der Gesellschaft zur Folge. Die Auswirkungen von Rassismus sind nicht nur für betroffene Menschen gravierend, sondern für die ganze Gesellschaft.

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