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Wegweisendes Urteil gegen gängige Praxis der Behörden

18.07.2011

Offenbar ist es in einigen Kantonen seit Jahren eine gängige Praxis, dass inhaftierten papierlosen Personen bei der Verhängung einer Strafe eine Einspruchsverzichtserklärung abverlangt wird. Ob von dieser Praxis auch andere rechtsunkundige, allenfalls mittellose Inhaftierte betroffen sind, ist nicht bekannt.

Am 23. Juni 2011 hat das Liestaler Strafgericht erstmals eine solche Einspracheverzichtserklärung für ungültig erklärt. Der Urteilsspruch könnte zum Präzedenzfall für die Schweiz werden und somit der rechtsstaatlich unhaltbaren Praxis der Strafverfolgungsbehörden der Kantone ein Ende bereiten.

Strafbefehl und Einspracheverzicht

Der 21-jährige Papierlose Reshad Al Madani sass bereits seit 18 Tagen wegen einer anderen Anklage in Untersuchungshaft, als er zusätzlich wegen unrechtmässigem Aufenthalt in der Schweiz angeklagt wurde. Dies ungeachtet des Umstandes, dass er bereits als Kleinkind mit seinen nach wie vor papierlosen Eltern zuerst nach Deutschland und dann in die Schweiz eingereist war, wie die Basler Zeitung (BaZ) am 4. Juli 2011 berichtete. Zeitgleich mit dieser zweiten Anklage wurde Al Madani im Statthalteramt Arlesheim eine vorformulierte Erklärung vorgelegt, mit welcher er auf das verbriefte Recht zur Einsprache gegen den Strafbefehl verzichtete. Mit seiner Unterschrift akzeptierte er eine viermonatige, unbedingte Strafe  und verzichtete auf Rekursmöglichkeiten.  Dem Sans Papiers sei nach eigenen Aussagen von der Behörde eine härtere Strafe in Aussicht gestellt worden, falls er die Verzichtserklärung nicht unterschreibe. Rechtsbeistand erhielt er keinen.

Der mit dem Fall betraute Arlesheimer Untersuchungsbeamte bestätigte gegenüber dem Richter, dass in solchen Fällen die gleichzeitige Unterbreitung des Strafbefehls und des Einspracheverzichts die gängige Praxis der Statthalterämter sei. 

Problematische Strafbefehle

Dieses Vorgehen ist zusätzlich stossend vor dem Hintergrund, dass nirgends sonst so viele Strafbefehle verhängt werden wie in der Schweiz. In einem Beitrag der Rechtszeitschrift «Plädoyer» (Ausgabe 1/11) wurde kürzlich darauf hingewiesen, dass 95 Prozent aller Verurteilungen in der Schweiz nicht von einem Strafgericht gestützt auf eine öffentliche Hauptverhandlung ausgesprochen werden, sondern via  Strafbefehl eines Staatsanwaltes verhängt werden. Aus rechtsstaatlicher Sicht ist dies aus zweierlei Gründen höchst problematisch: Einerseits aufgrund der hohen Fehleranfälligkeit dieses Vorgehens, andererseits aufgrund der oftmals komplizierten Rechtstexte, die von den Verurteilten gar nicht verstanden werden. Laut dem «Plädoyer» sind in Deutschland Strafbefehle bei unbedingten Freiheitsstrafen deshalb verboten und bei bedingten nur zulässig, wenn der Beschuldigte einen Rechtsbeistand hat. In Österreich sei dieses Verfahren wegen rechtsstaatlicher Bedenken sogar ganz abgeschafft.

Unzulässige Praxis der Behörden

Gegen die Einspracheverzichtserklärung von Reshad Al Madani hat die Menschenrechtsaktivistin Anni Lanz vom Solinetz Basel rekurriert. Der später beigezogene Rechtsvertreter Hans Suter bezeichnete das Vorgehen der Strafuntersuchungsbehörde laut der BaZ als rechtsstaatlich unzulässig. Auch der Baselbieter Strafgerichtspräsident Daniel Seiler erachtete es als rechtsstaatlich unstatthaft, dass eine Verzichtserklärung unterbreitet werde, bloss um die Arbeit der Behörde zu vereinfachen. Das Liestaler Strafgericht erklärte die Einspracheverzichtserklärung von Reshad Al Madani deshalb als ungültig.

Kein Einzelfall

Ähnliche Fälle aus dem Kanton Basel waren bereits früher bekannt geworden. Beispielsweise berichtete die Wochenzeitung (WOZ) am 15. Juni 2006 über einen Fall, in welchem ein Asylsuchender mit Nichteintretensentscheid (NEE) mit diversen Drohungen dazu gezwungen worden war, seine Einsprache gegen einen Strafbefehl zurückzuziehen (vergleiche dazu den Artikel vom 1.6.2006 unter «Interne Links»). Von gut unterrichteter Seite wird berichtet, dass diese Praxis nicht nur in beiden Basel, sondern auch in anderen Kantonen gängig sei. Als Beispiel dokumentieren wir einen anonymisierten Strafbefehl mit integriertem Einspracheverzicht aus dem Kanton Luzern.

P.S.

Mit der neuen Strafprozessordnung, die ab dem 1. Jan. 2011 gültig ist, wird es einer juristisch unprofessionellen Person untersagt, in solchen Fällen als rechtliche Vertretung aktiv zu werden (StPO Art. 127). Anni Lanz hätte also seither diesen Rekurs gar nicht mehr lancieren können. Dies ist deshalb gravierend, weil sich solche Fälle weitgehend im Dunkeln abspielen und im besten Falle von engagierten «Unprofessionellen» überhaupt entdeckt werden; und dann sind die Fristen klein.

Dokumentation