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Kurzanalyse zur Ratifizierungsvorlage für EMRK-Zusatzprotokoll Nr. 15

10.03.2015

Der Wortlaut der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte (EMRK) soll abgeändert werden. Das Zusatzprotokoll Nr. 15 zur EMRK sieht Anpassungen in fünf Punkten vor. Der Bundesrat stimmt den Anpassungen zu, weshalb er nun die Ratifizierungsvorlage zuhanden des Parlaments verabschiedet hat. Es ist davon auszugehen, dass die Vorlage wenig Widerspruch auslöst, denn sie ist kein wirklicher Einschnitt. Interessant ist sie dennoch, denn sie zeigt, dass die Politik ihre Steuerungsfunktion gegenüber dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wahrnimmt.

Langjähriger Reformprozess

Ausgelöst wurde dieser Überarbeitungsschritt der EMRK an der Ministerratskonferenz des Europarates in Interlaken 2010 unter dem Vorsitz der Schweiz. Ziel der Revision war es ursprünglich, die Effizienz des EGMR zu stärken. Sie reiht sich ein in die langjährigen Bestrebungen, die Funktionsfähigkeit des überlasteten EGMR sicherzustellen und zu verbessern. Die Stossrichtung des Zusatzprotokolls Nr. 15 ist in den vergangenen Jahren auf Ministerratsebene erarbeitet worden. Mitbeteiligt an diesem Prozess waren auch der Bundesrat und die Bundesverwaltung.

Das Zusatzprotokoll Nr. 15 bewirkt eine Änderung der EMRK und tritt deshalb erst in Kraft, wenn alle 47 Mitgliedstaaten des Europarats die Ratifizierungsurkunde eingereicht haben. Bisher haben 10 Staaten das Protokoll ratifiziert (aktueller Stand).

Was beinhaltet das Zusatzprotokoll?

Das Zusatzprotokoll sieht zum einen Änderungen in vier Artikeln der EMRK vor. Es sind mehrheitlich prozedurale Änderungen. Die wohl einschneidenste Anpassung ist, dass die Frist zur Einreichung einer Beschwerde von 6 auf neu 4 Monate verkürzt wird (Art. 35 Abs. 1). Von Bedeutung ist ferner die strengere Ausgestaltung der Zulassungsbedingungen für eine Beschwerde. Mit dem neuen Wortlaut von Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK soll verhindert werden, dass der EGMR sich mit Bagatellfällen befassen muss.

Mehr Spielraum bei der Umsetzung für die Staaten?

Mit Blick auf die schweizerische Debatte über die EMRK ist die mit dem Zusatzprotokoll Nr. 15 vorgesehene Ergänzung der Präambel der EMRK von Bedeutung. Sie enthält künftig den Hinweis auf das Prinzip der Subsidiarität und die «margin of appreciation»-Doktrin. Damit wird die Praxis des EGMR bekräftigt, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der EMRK je nach dem Streitgegenstand mehr oder weniger Spielraum für die Beurteilung einer Beschwerde haben. Generell gewährt der EGMR den Staaten bei moralischen und sittlichen Fragen (wie etwa das EGMR-Urteil zu den Kruzifixen im Klassenzimmer) einen deutlich grösseren Beurteilungsspielraum als bei Fragen der nationalen Sicherheit.

Dahinter steht die Idee, dass die Konvention bei der Sicherung der Menschenrechte nur subsidiär zur Anwendung gelangen soll und in erster Linie die Mitgliedstaaten in ihrer Gesetzgebung und Rechtsprechung mit der Umsetzung der EMRK betraut sind. Der Europarat geht also davon aus, dass die Mitgliedstaaten die lokalen Befindlichkeiten und Mentalitäten besser kennen und angemessen berücksichtigen können. Dem EGMR kommt schliesslich, unter Beachtung dieses zugestandenen Spielraums, die Verantwortung zu, die nationalen Entscheide auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK zu überprüfen.

Wirkung unklar

Die Neuformulierung der Präambel soll der Kritik am EGMR Rechnung tragen, er nehme durch extensive Auslegung der EMRK zunehmend in ungebührlicher Weise auf innerstaatliche Entscheide Einfluss. Allerdings war das Subsidiaritätsprinzip auch bisher schon allgemein anerkannt und die «margin of appreciation»-Doktrin wurde von den Richtern/-innen des EGMR in ihrer Rechtsprechung entwickelt. 

Kommentar

Es ist möglich, dass der EGMR in seiner Rechtsprechung künftig nationale Besonderheiten noch stärker gewichten wird. Entscheidend wird aber sein, ob die «margin of appreciation»-Doktrin vom Bereich moralischer und gesellschaftspolitischer Fragestellungen auf andere Bereiche ausgeweitet wird, zum Beispiel auf die Behandlung von Inhaftierten oder auf die Auslegung des Rechts auf Familie. Das wäre dann tatsächlich fatal für die Menschenrechte: eine systematische Erosion wäre die unaufhaltsame Folge.

Es ist wohl dem Zeitgeist geschuldet, dass in einigen Staaten massive Grundsatzkritik an der supranationalen Rechtsprechung des EGMR geübt wird. Oft stecken politische Kräfte dahinter, welche die schwindende nationale Souveränität zu einem Fetisch machen. Würde man diesen Kräften das Feld überlassen, so würden sie die international garantierten Menschenrechte ganz abschaffen. Damit wären wir zurück auf Feld 1, das heisst im Jahre 1933.

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