26.05.2025
Ein in der Schweiz geborener Kosovare mit schwerer Herzerkrankung wurde ausgewiesen – zu Unrecht, wie der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Mai 2025 entschied. Die Ausweisung verletzte sein Recht auf Achtung des Privatlebens gemäss Artikel 8 EMRK.
Die Entscheidung des EGMR vom 2. Mai 2025 in der Rechtssache B.K. gegen die Schweiz wirft ein kritisches Licht auf migrationsrechtliche Zwangsmassnahmen gegenüber langjährig ansässigen Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen. Der Gerichtshof stellte fest, dass die Ausweisung des in der Schweiz geborenen B.K. gegen Artikel EMRK – das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – verstösst. Die Massnahme gefährdete den Zugang zu überlebensnotwendiger medizinischer Versorgung und ignorierte wesentliche Aspekte der persönlichen Bindung des Betroffenen zur Schweiz.
Ein Leben in der Schweiz – und doch ausgewiesen
B.K., geboren 1989 im Kosovo, kam als Kleinkind in die Schweiz und lebte dort durchgehend über drei Jahrzehnte mit seiner Familie. Er hatte zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Er leidet an einem angeborenen Herzfehler, der 2009 eine lebensrettende Operation erforderlich machte und seither eine spezialisierte medizinische Nachsorge voraussetzt. Trotz dieser gesundheitlichen Einschränkungen wurde seine Aufenthaltsbewilligung 2009 nach mehreren Straftaten widerrufen. Der Beschwerdeführer war 2009 wegen schwerer Körperverletzung, Diebstahls, Drohungen, Beleidigungen und Verstößen gegen das Waffengesetz verurteilt worden.
Die Schweizer Behörden begründeten ihre Entscheidung zur Ausweisung mit dem öffentlichen Interesse an Sicherheit und Ordnung. B.K machte geltend, dass seine schwere Herzerkrankung eine spezialisierte Behandlung erfordere, die im Kosovo nicht in gleichwertiger Weise verfügbar sei, dass er sozial und familiär in der Schweiz vollkommen integriert sei und dass das Arbeitsverbot während des längerfristigen ausländerrechtlichen Verfahrens eine Rückkehr auf den Arbeitsmarkt erschwert hätte. Sämtliche Beschwerden in Bezug auf den Gesundheitszustand und die unzureichende medizinische Versorgung im Kosovo wurden vom Bundesgericht zwischen 2011 und 2023 abgewiesen.
Im Juli 2023 verliess B.K. nach endgültigem Entscheid die Schweiz. Seine Wiedereinreise ist bis Juli 2026 untersagt, obwohl medizinische Notfälle in dieser Zeit nicht ausgeschlossen werden können.Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienlebens
Der EGMR anerkannte, dass B.K. ein «niedergelassener Migrant» war, da er als Kind in die Schweiz gekommen war, eine Aufenthaltsbewilligung erhalten hatte und bis zu seiner Ausweisung rechtmäßig dort gelebt hatte. Daher ist Artikel 8 EMRK im Hinblick auf die «Achtung des Privatlebens» anwendbar. Die Straftaten, die zu seiner Ausweisung geführt hatten, hatte er vor seinem zwanzigsten Lebensjahr begangen und er stelle heute keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit mehr dar. Artikel 8 EMRK schützt das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Korrespondenz. Eingriffe in dieses Recht sind nur zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen, einem legitimen Ziel wie dem Schutz der öffentlichen Ordnung dienen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und verhältnismässig sind.
In der Beschwerde wurde ausserdem eine Verletzung von Artikel 3 EMRK – dem Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung – geltend gemacht. Der EGMR sah jedoch aufgrund der bereits festgestellten Verletzung von Artikel 8 EMRK keine Notwendigkeit, diese zweite Beschwerde gesondert zu prüfen. Dennoch ist Artikel 3 EMRK im Kontext chronischer oder lebensbedrohlicher Erkrankungen stets zu berücksichtigen, wie unter anderem das Grundsatzurteil Paposhvili v. Belgien (Nr. 41738/10, 2016) deutlich macht.
Unzureichende Verhältnismässigkeitsprüfung durch Schweizer Behörden
Der Gerichtshof befand, dass die schweizerischen Behörden keine hinreichende Interessenabwägung im Sinne von Artikel 8 EMRK vorgenommen hatten. Zwar seien Staaten berechtigt, ausländische Personen auszuweisen, insbesondere bei schweren Straftaten. Allerdings müsse bei langjährig ansässigen Personen eine strikte Prüfung der Verhältnismässigkeit erfolgen – insbesondere, wenn gesundheitliche Risiken bestehen. Damit kam der Gerichtshof zum Ergebnis, dass die Schweiz durch Ausweisung und Einreiseverbot das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Artikel 8 EMRK verletzt hatte, weil die gebotene sorgfältige Verhältnismässigkeitsprüfung unterblieben war.
Der EGMR prüfte die Verhältnismässigkeit des Eingriffs anhand der Kriterien, die er in den Urteilen Üner v. Niederlande und Savran v. Dänemark entwickelt hatte: Aufenthaltsdauer, Alter bei Einreise, Integrationsgrad, familiäre Bindungen, Schwere der Straftaten und die Lage im Herkunftsland. Er rügte, dass die Schweizer Instanzen diese Faktoren nicht gesamthaft gewürdigt hatten: Die Delikte lägen lange zurück, echte Bindungen im Kosovo seien lediglich hypothetisch, und gelegentliche Besuche als junger Erwachsener ermöglichten keine tragfähigen Netzwerke vor Ort.
In medizinischer Hinsicht stellte das Gericht fest, dass im Kosovo keine gesicherte Versorgung – insbesondere für Notfälle – gewährleistet sei. Die Behörden hätten nicht nur auf die statistisch geringe Wahrscheinlichkeit eines akuten Eingriffs (0,7–1 % pro Jahr) abstellen dürfen, sondern die potenziell existenziellen Folgen berücksichtigen müssen.
Schliesslich verwarf der EGMR das Argument, man müsse andere Migrant*innen davon abhalten, ihre Aufenthaltsrechte durch Beschwerdeverfahren zu sichern: Die legitime Ausübung rechtlicher Mittel dürfe bei der Interessenabwägung kein negatives Gewicht erhalten.
Bedeutung der medizinischen Versorgung in der Rechtsprechung
Der Gerichtshof verweist auf das Urteil Paposhvili v. Belgien, in dem er klarstellt, dass eine Ausweisung nur dann zulässig ist, wenn die medizinische Versorgung im Zielland tatsächlich verfügbar und zugänglich ist. Die blosse Möglichkeit einer kurzfristigen Rückkehr nach Europa bei Komplikationen wurde angesichts des Schengen-Einreiseverbots und der Unsicherheiten im Verfahren als unzureichend bewertet. Damit betont das Urteil den menschenrechtlichen Anspruch auf effektiven Zugang zu medizinischer Versorgung auch im Migrationskontext. Im vorliegenden Fall ist die medizinische Versorgung für das komplexe Krankheitsbild von B.K. weder nach medizinischen Gutachten gesichert noch wäre es im Falle eines Notfalls rechtzeitig verfügbar.
Verpflichtung zur individualisierten Bewertung
Das Urteil hat über den Einzelfall hinaus eine Signalwirkung: Es stärkt die Rechte von langjährig in einem Vertragsstaat lebenden Migrant*innen mit gesundheitlichen Einschränkungen und betont den individuellen Charakter der Verhältnismässigkeitsprüfung. Auch bei Vorliegen strafrechtlicher Verfehlungen dürfen menschenrechtliche Schutzpositionen nicht pauschal zurückgestellt werden. Die Schweiz ist als Vertragsstaat der EMRK verpflichtet, migrationsrechtliche Massnahmen mit besonderer Rücksicht auf gesundheitliche und soziale Vulnerabilitäten zu prüfen. Der EGMR sprach dem Beschwerdeführer 4.000 Euro Schadenersatz sowie 15.000 Euro Verfahrenskosten zu.
Das Urteil ist ein weiteres Beispiel für die zunehmende menschenrechtliche Relevanz von Gesundheit im migrationsrechtlichen Kontext. Es verdeutlicht zudem die Notwendigkeit, nationale Behörden auf die verbindlichen Standards der EMRK zu verpflichten – sowohl in medizinischen Fragen als auch hinsichtlich rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien. Künftige Ausweisungsverfügungen gegenüber chronisch Kranken oder anderweitig verletzlichen Personen werden sich daran messen lassen müssen.

