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N.D. vs. Schweiz: Schweiz wegen Versagens beim Schutz einer Frau vor häuslicher Gewalt verurteilt

14.07.2025

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz verurteilt, weil die Behörden beim Schutz des Rechts auf Leben einer Frau versagt haben. Die Frau wurde von ihrem Partner verschleppt, missbraucht und vergewaltigt. Das Gericht ist der Ansicht, dass die Behörden angesichts einer eindeutigen und unmittelbaren Gefahr untätig geblieben sind, obwohl sie von der Gewalttätigkeit des Mannes Kenntnis hatten.

Im September 2007 trennte sich die Beschwerdeführende N.D. per Brief von ihrem damaligen Partner X., dem Mann, mit dem sie seit November 2006 eine Beziehung geführt hatte. Als Reaktion darauf drang X. bei N.D. in die Wohnung ein, hielt sie dort fest, versuchte sie zu ersticken, vergewaltigte sie, verletzte sie schwerwiegend mit einer Armbrust und schloss sie in seinem Auto ein. In der folgenden Nacht zwang er sie, mit ihm zu sich nachhause zu fahren. Dort gelang es ihr, den Psychologen von X. anzurufen, der darauf die Rettungsdienste informierte. N.D. wurde in kritischem Zustand aufgefunden und hospitalisiert. X. wurde noch am gleichen Tag festgenommen, nahm sich in Polizeigewahrsam jedoch das Leben. 

Im Jahr 2015 reichte die Klägerin eine Staatshaftungsklage gegen den Kanton Luzern ein und warf den Behörden vor, ihre Informationspflicht über die kriminelle Vergangenheit und die Gefährlichkeit ihres Partners sowie ihre Schutzpflicht verletzt zu haben. Die Klage wurde von allen kantonalen Gerichten und schliesslich auch vom Bundesgericht mit Urteil vom 8. Juni 2018, abgewiesen. Darauf beschliesst N.D. eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzureichen. Mit Urteil vom 3. April 2015 urteilte dieses, dass die Schweiz gegen das Recht auf Leben nach Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstossen hatte. Das Urteil untermauert die Verpflichtung der Mitgliedstaaten des Europarates, häuslicher Gewalt vorzubeugen und zu bekämpfen.

Eine polizeibekannte Vorgeschichte

X. wurde 1995 zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt, weil er seine damalige Freundin 1993 vergewaltigt und getötet hatte. N.D. wusste nichts von dieser Vorgeschichte. Unter strengen Konditionen, darunter eine Psychotherapie, wurde X. 2001 aus dem Gefängnis entlassen. 2006 wurde er jedoch wieder in Untersuchungshaft genommen. Der Grund war Bedrohung, Nötigung, Missbrauch von Telekommunikation und Verleumdung seiner ehemaligen Lebensgefährtin. Trotz eines psychiatrischen Gutachtens, welches X. als gefährlich eingestuft hatte, wurde er mit den gleichen Auflagen wie zuvor entlassen. Im August 2007, kontaktierte N.D. den Hausarzt von X., weil sie sich Sorgen um sein Verhalten machte. Daraufhin hat der Arzt ihr empfohlen, die Beziehung zu beenden. Jedoch riet er, dies nicht abrupt zu tun. Der Arzt informierte die Polizei über das Verhalten von X. gegenüber N.D. Daraufhin hatte N.D am nächsten Tag ein Telefongespräch mit einem Polizisten geführt, in welchem sie erzählte, dass sie die Beziehung beenden wolle und von X. per Telefon und SMS belästigt werde. Sie wollte jedoch keine Anzeige gegen ihn erstatten.

Die Behörden verfügten zwar über wichtige Informationen welche die Gefährlichkeit des Täters betrafen, zu diesen hatte die Klägerin jedoch auch rechtlichen Gründen keinen Zugang. Gemäss den Bestimmungen des Schweizer Strafregistergesetzes (Artikel 24 Absatz 3 der Strafregisterverordnung) dürfen Auszüge aus dem Strafregister, die Dritte betreffen, nur mit schriftlicher Zustimmung der betroffenen Personen an andere weitergegeben werden. Zudem kann die Offenlegung psychiatrischer Gutachten eine Straftat darstellen (Artikel 320 und 321 des Schweizer Strafgesetzbuches), da diese durch das Amtsgeheimnis geschützt sind.

Staaten müssen das Leben bedrohter Frauen schützen…

In dem Urteil hat der EGMR fundamentale Prinzipien betreffend dem Recht auf Leben in Artikel 2 EMRK bekräftigt, welche durch seine Rechtsprechung etabliert wurden. Es wird hervorgehoben, dass Staaten gemäss Artikel 2 EMRK gewisse Verpflichtungen haben. Konkret sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, Massnahmen zu ergreifen, um jede Person zu schützen, deren Leben durch die kriminellen Handlungen anderer bedroht ist. Dies hat eine besondere Bedeutung im Kontext von Gewalt gegen Frauenund insbesondere von häuslicher Gewalt.

In zwei anderen wichtigen Urteile wurden diese Verpflichtungen konkretisiert. Im Fall Opuz gegen die Türkei hatte der EGMR die Verpflichtung zur wirksamen Prävention von häuslicher Gewalt damit begründet, dass die Opfer in diesem Kontext besonders gefährdet sind. Der Staat ist verpflichtet, einen wirksamen Rechtsrahmen zu schaffen, der nicht nur in der Lage ist, Gewalttäter zu bestrafen, sondern auch Gewalt zu verhindern. Die Kriterien für die Beurteilung, ob ein Staat seinen Verpflichtungen nachgekommen ist, hat der EGMR in seinem Urteil zum Fall Kurt gegen Österreich etabliert. Sobald eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt erstattet wird, müssen die Behörden unverzüglich reagieren. Dazu gehört auch eine unabhängige, proaktive und umfassende Bewertung des Risikos, dass das Opfer tödlich verletzt werden könnte. Die Behörden sollten nicht auf Risikowahrnehmung des Opfers vertrauen, sondern diese durch ihre eigene Einschätzung ergänzen. Wenn diese eine tatsächliche und unmittelbare Gefahr für das Leben der betroffenen Person ergibt, sind die Behörden verpflichtet, auf die Gefahr abgestimmte Schutzmassnahmen zu ergreifen.

… auch wenn keine Klage vorliegt

Im Urteil N.D. gegen die Schweiz erinnert der EGMR nicht nur an seine frühere Rechtsprechung, sondern erweitert - wenn auch nur geringfügig - seine etablierten Grundsätze. Vor diesem Urteil war der EGMR der Ansicht, dass die Verpflichtung zum Handeln gemäss Artikel 2 EMRK entsteht, wenn die Behörden eine formelle Beschwerde über gewalttätiges oder bedrohliches Verhalten erhalten. Die Beschwerde generiert die Verpflichtung der Behörden, Schutzmassnahmen zu ergreifen. Im vorliegenden Fall hat der EGMR jedoch eine Änderung vorgenommen. Er ist der Ansicht, dass diese positive Verpflichtung auch dann entsteht, wenn keine Strafanzeige vorliegt, sondern sobald Behörden Kenntnis von einschlägigen Informationen erlangen.

Im vorliegenden Fall wurde der Anruf des behandelnden Arztes von X. bei der Polizei von den Richtern des EGMR als ausreichend erachtet, um diese Schutzpflicht auszulösen. Zudem ist er EGMR der Ansicht, dass die Behörden angesichts dieser Meldung keine ausreichenden Massnahmen ergriffen haben, um das Risiko der Beschwerdeführerin angemessen zu mindern. Nach Ansicht des EGMR haben die Bestimmungen über das Strafregister und die psychiatrischen Berichte dazu beigetragen, ein Informationsungleichgewicht zu schaffen. Dies hätte die Behörden dazu veranlassen müssen, dem Fall erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken und eine aktualisierte sowie umfassende Risikobewertung im Hinblick auf die Beschwerdeführerin vorzunehmen.

Das Gericht begrüsst zwar die isolierte Initiative eines Polizeibeamten, der die Beschwerdeführerin über Hilfsmöglichkeiten informiert hatte, stellt jedoch fest, dass diese Aktion folgenlos blieb. Es wurde weder eine konkrete Gefahreneinschätzung vorgenommen, noch wurden wirksame Schutzmassnahmen ergriffen. Aufgrund der Lücken im innerstaatlichen Recht, aber auch aufgrund des fehlenden Handelns der verschiedenen staatlichen Stellen, kommt der EGMR daher zu dem Schluss, dass die Behörden ihrer Pflicht, operative Massnahmen zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Beschwerdeführerin zu ergreifen, nicht nachgekommen sind.

Konkrete Instrumente für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen

In seinem Urteil stützt sich der EGMR sich auf Instrumente des internationalen Rechts, welche Gewalt gegen Frauen bekämpfen. Er bezieht sich auf das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul Konvention) sowie auf die Arbeit der Expert*innengruppe für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence, GREVIO). Die Expert*innengruppe ist ein unabhängiges Organ zur Beobachtung der Umsetzung der Instanbul Konvention. Der EGMR bezieht sich im Urteil auf die GREVIO-Kriterien, die als Indikatoren für ein erhöhtes Risiko von Gewalt, insbesondere in der Ehe, herangezogen werden. Ausserdem bezieht er sich auf die Allgemeine Empfehlung Nr. 35 über geschlechtsbezogene Gewalt gegen Frauen, in der ausdrücklich die systemische Natur dieser Gewalt anerkannt wird. So beschränkt sich der Gerichtshof nicht auf eine strenge Lesart der EMRK und ihrer Rechtsprechung, sondern verstärkt die Reichweite des effektiven Schutzes von Personen, die vor dieser Gewalt besonders gefährdet sind.

Der EGMR erwähnt auch best practices, die in einigen Mitgliedstaaten des Europarats zur Verhinderung von Femiziden angewandt werden und an welchen sich die Schweiz ein Beispiel nehmen könnte. Sie erwähnt insbesondere das Vereinigte Königreich, das ein Programm zur Offenlegung der Vorgeschichte häuslicher Gewalt eingeführt hat, welches als Domestic Violence Disclosure Scheme (DVDS) bekannt ist. Diese Regelung wurde nach der Ermordung von Clare Wood durch ihren ehemaligen Lebensgefährten im Jahr 2009 eingeführt. Sie ermöglicht es, bei der Polizei Informationen über den Hintergrund eines Partners anzufordern (Antragsrecht). Zudem berechtigt sie die Strafverfolgungsbehörden, eine potenziell gefährdete Person proaktiv zu informieren (Recht zu Wissen). Die spanische Plattform VioGén-2, die von der Polizei und anderen zuständigen Stellen gefüttert wird, ist ein weiteres Beispiel für ein System, mit dem Rückfälle verhindert werden können. Diese Regelung sieht zum einen die Einrichtung einer automatisierten Datei für die Justizbehörden vor, die eine Bewertung des von einem Partner ausgehenden Risikos ermöglicht. Zudem gibt es einem Opfer die Möglichkeit, über frühere Anzeigen gegen seinen Angreifer informiert zu werden. Mit diesen Vorkehrungen verfolgen die britischen und spanischen Behörden einen proaktiven und sensibilisierten Ansatz zur Verhinderung von Gewalt und zur Gewährleistung der Sicherheit der Opfer und ihrer Angehörigen.

Schutz vor häuslicher Gewalt weist in der Schweiz noch Lücken auf

Dieser Fall thematisiert den Konflikt zwischen zwei Grundrechten. Das Recht des Opfers auf Information zum Selbstschutz und das Recht des mutmasslichen Täters auf Privatsphäre, vor allem betreffend Strafregister und Privatleben, sowie das Recht auf Vergessen, stehen hier konträr zueinander. In seinem Urteil hält der EGMR fest, dass das Recht des potenziellen Opfers auf Zugang zu Informationen, die den Behörden vorliegen, Vorrang haben muss. Er stellt jedoch fest, dass das innerstaatliche Recht der Schweiz in diesem Punkt lückenhaft ist. Denn rechtliche Hindernisse in Bezug auf das Amtsgeheimnis und dem Zugang zum Strafregister verhindern die Übermittlung wesentlicher Informationen an das Opfer, selbst wenn eine nachweisliche Gefahr besteht.

Schliesslich unterstreicht das Urteil die strukturellen Grenzen des Schweizer Systems zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt. Diese Mängel wurden insbesondere von GREVIO in seinem Bericht zur Überprüfung der Schweiz (2022) bemängelt. Darin wurde die grossen Unterschiede zwischen den Kantonen und die fehlende Harmonisierung bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen angeprangert. Das Gremium bedauert auch, dass nicht genügend gerichtliche Daten gesammelt werden, um die Wirksamkeit der strafrechtlichen Reaktion auf Gewalt gegen Frauen einzuordnen. Das Urteil fordert daher mit Nachdruck die Einführung eines kohärenten, proaktiven und opferorientierten Ansatzes in allen Kantonen.