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Erstes EGMR-Urteil von 2013 zum Fall Perinçek gegen die Schweiz

12.03.2014

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte am 12. Dez. 2013 eine Beschwerde des türkischen Nationalisten Dogu Perinçek gutgeheissen, nachdem dieser vom schweizerischen Bundesgericht wegen seiner Leugnung des Armenier-Völkermords während Auftritten in der Schweiz verurteilt worden war. Der Bund ersuchte die Grosse Kammer des EGMR am 11. März 2014 um eine Neubeurteilung des Falles. 

Starke Gewichtung der Meinungsäusserungsfreiheit

Der EGMR hat in einem Urteil vom 17. Dezember 2013 die Beschwerde gutgeheissen und festgehalten, die Verurteilung von Perinçek verletze die Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10 EMRK). Die freie Ausübung des Rechts, sich öffentlich zu kontroversen und heiklen Fragen zu äussern, sei einer der fundamentalen Aspekte des Rechts auf Meinungsäusserungsfreiheit, die eine tolerante und pluralistische Gesellschaft von einem totalitären oder diktatorischen Regime unterscheide, hält der EGMR in seiner Medienmitteilung fest. Zugleich präzisiert das Gericht, dass es im vorliegenden Fall nicht darum ging, zu beurteilen, ob die Qualifizierung der Massenmorde an den Armeniern im Jahr 1915/16 als Genozid bzw. Völkermord zutreffe oder nicht. Der EGMR vertritt die Ansicht, dass es darüber keinen internationalen Konsens gebe, weil nur 20 von 190 Staaten die damaligen Greueltaten und Vertreibungen als Völkermord anerkennen würden.

Abweichende Meinungen

Bemerkenswert ist, dass der Gerichtshof sein Urteil nicht einstimmig fällte. Zwei Richter waren der Meinung, es gebe durchaus einen internationalen Konsens in der Frage der Bewertung der Massenmorde an den Armeniern. Sie hielten in ihren Stellungnahmen fest, dass sie den Weiterzug an die Grosse Kammer des EGMR begrüssen würden, weil sich das Gericht noch nie zum Thema geäussert hat. Das vorliegende Urteil ist ein Urteil der 1. Kammer des EGMR. 

Urteil und Argumentationslinien des EGMR

Der EGMR hatte die Frage zu beurteilen, ob der türkische Politiker Dogu Perinçek in der Schweiz zu Recht wegen rassistischer Diskriminierung (Art. 261bis StGB) verurteilt wurde oder nicht. Für die Strassburger Richter/innen sind die gesetzlichen Voraussetzungen für das Verfahren erfüllt. Sie gehen auch mit den Schweizer Kollegen/-innen einig, dass Perinçek mit einer Strafe rechnen musste, als er in der Schweiz den Genozid an den Armeniern als «internationale Lüge» bezeichnete.

Aus den folgenden Gründen kommt der EGMR dennoch zu einer anderen Schlussfolgerung als die Schweizer Gerichtsinstanzen: Der EGMR sieht, wie erwähnt, den Konsens im Zusammenhang mit der Bewertung der Massenmorde an den Armeniern nicht gegeben. Zudem bewertet der EGMR den Auftritt Perinçeks nicht als nationalistischen, rassistischen Angriff auf die armenische Gemeinschaft in der Schweiz. Er war demnach weder herabwürdigend noch als Aufruf zu rassistischer Hassrede oder Gewalt einzuschätzen. Auch hat Perinçek gemäss EGMR den Massenmord an den Armeniern nicht als solchen in Frage gestellt, sondern nur dessen Bewertung als Genozid. Für eine zweifelsfreie Qualifizierung als Völkermord fehlen dem EGMR die klaren internationalen Rechtsgrundlagen, wie es sie im Falle des Holocaust gibt. Der EGMR hält ferner mit Bezug auf zwei europäische Verfassungsgerichtshöfe fest, dass die Leugnung eines Genozids nicht zwangsläufig zu einer strafrechtlichen Verurteilung führen muss.

Scharfe Kritik

In einem ganzseitigen Inserat in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6. März 2014 hat «The International Institute for Genocide and Human Rights Studies» eine scharfe Kritik am EGMR-Urteil geäussert. Die Stellungnahme wird von einer langen Liste von Wissenschaftlern/-innen aus dem Bereich der Genozidforschung unterstützt. Die Ausführungen münden in folgendem Appell: «Die Schweizer Regierung besitzt die moralische Pflicht, gegen den Entscheid des EGMR Berufung einzulegen und ihre Gesetze gegen den Rassismus zu verteidigen.»

Diesem Anliegen hat der Bund am 13. März 2014 entsprochen und den EGMR ersucht, den Fall in der Grossen Kammer zu behandeln. 

Kommentar humanrights.ch

Die Argumentationsweise des ersten Urteils des Gerichtshofs im Fall Perincek lässt sich nachvollziehen. Es lässt sich so verstehen, dass es aufgrund der Meinungsfreiheit möglich sein soll, kontrovers über die Qualifizierung von schrecklichen historischen Ereignissen wie Massenmorden und kollektiven Vertreibungen als «Völkermord» zu diskutieren, solange nicht ein internationales Gericht auf der Grundlage eines breiten internationalen Konsens - wie im Falle des Holocaust - ein Ereignis als Völkermord eingestuft hat. 

Allerdings provozierte dieses erste Urteil unterschiedliche Deutungen. Zudem stiess es in der Schweiz auf viel Unverständnis. Leider schlachteten die Gegner der Antirassismus-Strafnorm das Urteil propagandistisch aus und behaupteten in Verkennung des EGMR-Urteils, Art. 261bis StGB verletze als solcher die Meinungsäusserungsfreiheit. Die SVP reichte noch am Tag als der Schweizer Rekurs in Strassburg  bekannt wurde, eine Motion ein, welche verlangt, dass die Antirassismus-Strafnorm ersatzlos zu streichen sei, mit der Begründung des Schutzes der Meinungsäusserungsfreiheit. Die Motion ist im Rat bisher noch nicht behandelt worden. Der Vorstoss der SVP ist völlig unbegründet und wird vom Parlament hoffentlich hochkant verworfen. Denn bei einer korrekten Anwendung hat das Antirassismus-Gesetz im Einzelfall höchstens eine legitime Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit zur Folge. Eine sorgfältige Abwägung der jeweiligen Konstellation und eine entsprechend zurückhaltende Anwendung des Art. 261bis StGB durch die Gerichte war und ist die Regel.

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