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Wegzug des Kindes ins Ausland: die Schweiz verletzt das Recht auf ein faires Verfahren

15.09.2022

Zwei Vätern war es nicht möglich, die Verlegung des Wohnsitzes ihres Kindes ins Ausland vor einem innerstaatlichen Gericht anzufechten. Gemäss dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz damit das Recht auf ein faires Verfahren verletzt.

In zwei Urteilen vom 8. Februar 2022 (Roth gegen Schweiz, Plazzi gegen Schweiz) kommt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zum Schluss, dass die Schweiz das in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierte Recht auf Zugang zu einem Gericht (Art. 6 Abs. 1 EMRK) verletzt hat: Den Beschwerden zweier Väter gegen den Umzug ihres jeweiligen Kindes ins Ausland war die aufschiebende Wirkung entzogen worden.

In den vorliegenden Fällen hatte jeweils die Mutter bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) die Genehmigung beantragt, den gewöhnlichen Aufenthaltsort ihres Kindes ins Ausland zu verlegen. Die zuständige KESB hiess das Gesuch gut und entzog einer allfälligen Beschwerde gegen diese Entscheidung die aufschiebende Wirkung. Kurz darauf erfolgte der Wegzug ins Ausland. Für die Beschwerden der Väter erklärten sich die kantonalen Gerichte daraufhin für unzuständig: durch die Wohnsitzverletzung liege die gerichtliche Zuständigkeit gemäss dem Haager Kinderschutzübereinkommen im Land des neuen Wohnsitzes. Das Bundesgericht bestätigte diese Einschätzung in beiden Fällen. Beide Väter hatten somit keinen Zugang zu einem Gericht, um sich gegen die Entscheidung der KESB zu wehren.

Keine Beschwerdemöglichkeit

Im Fall Roth hatte der Beschwerdeführer im Jahr 2008 mit einer Frau deutscher Staatsangehörigkeit eine Tochter bekommen. Nach der Trennung übertrug die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde des Kantons Bern beiden Elternteilen die elterliche Sorge und der Mutter die alleinige Obhut. Im Dezember 2015 ersuchte die Mutter bei der KESB um die Genehmigung, den gewöhnlichen Aufenthalt ihrer Tochter nach Deutschland zu verlegen, da sie dort eine neue Stelle antrat. Die KESB genehmigte den Antrag am 27. Januar 2016, teilte ihren Entscheid dem Vater mit und entzog einer möglichen Beschwerde die aufschiebende Wirkung. Zwei Tage später zog die Tochter des Beschwerdeführers nach Deutschland.

Die vom Vater eingereichte Beschwerde wurde vom Berner Obergericht abgewiesen. Gemäss den Richter*innen endet die Entscheidungsbefugnis der Schweizer Behörden in dem Moment, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes in einen anderen Vertragsstaat des Haager Kindesschutzübereinkommens verlegt wird. Mit dem Urteil vom 23. März 2017 bestätigte auch das Bundesgericht die Unzuständigkeit der Schweizer Gerichte und billigte im Übrigen die Entscheidung der KESB, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu entziehen: das Abwarten eines endgültiges Urteils hätte das Kind – in Anbetracht der Dringlichkeit des Umzuges – in einen Zustand der Ungewissheit versetzt, was dem Kindeswohl zuwidergelaufen wäre.

Der Fall Plazzi gegen die Schweiz ist ähnlich gelagert: Am 24. August 2017 übertrug die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde des Kantons Tessin der Mutter des gemeinsamen Kindes das alleinige Sorgerecht, genehmigte den Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts ins Ausland und entzog einer möglichen Beschwerde gegen diese Entscheidung die aufschiebende Wirkung. Einen Tag später zogen die Mutter und das Kind nach Monaco. Aufgrund des Haager Kindesschutzübereinkommens erklärte sich das Tessiner Berufungsgericht für Plazzis Beschwerde am 17. Oktober 2017 für nicht zuständig. Diese Einschätzung bestätigte das Bundesgericht mit einem Urteil vom 12. März 2018.

Gemäss Zivilgesetzbuch können Entscheidungen der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden grundsätzlich beim zuständigen Gericht angefochten werden (Art. 450 Abs. 1 ZGB). Solche Beschwerden haben aufschiebende Wirkung und führen dazu – sofern die Erwachsenenschutzbehörde oder die gerichtliche Beschwerdeinstanz nichts anderes entscheiden –, dass der Abschluss des Beschwerdeverfahrens abgewartet werden muss, bevor die fragliche Entscheidung vollstreckt werden kann (Art. 450c ZGB). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erinnerte in seinen Urteilen zu den vorliegenden Fällen daran, dass der Entzug einer aufschiebenden Wirkung von möglichen Beschwerden nur in dringenden Ausnahmefällen angeordnet werden darf – damit nicht anhand eines sofortigen Umzugs ins Ausland die Zuständigkeit der Schweizer Behörden und damit die bestehenden Rechtsmittel ausgehebelt werden können.

Zugang zu einem Gericht nicht gewährleistet

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt in zwei Urteilen vom Februar 2022 fest, dass die Schweiz in den Fällen Plazzi und Roth das Recht auf Zugang zu einem Gericht verletzt hat. Dieser Anspruch ergibt sich aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) und verlangt, dass Personen wirksame Rechtsbehelfe zur Verfügung haben. Beide Väter haben gemäss den Richter*innen in Strassburg das Recht, ihren Fall von einem unabhängigen und unparteiischen, durch das Gesetz geschaffenen Gericht, welches über zivilrechtliche Streitigkeiten entscheiden kann, verhandeln zu lassen; als Verwaltungsbehörde erfüllt die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB diese Anforderungen nicht.

Im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte brachte die Schweizer Regierung vor, dass beide Väter bestehende nationale Rechtsbehelfe nicht genutzt hätten. So habe die Möglichkeit bestanden, beim kantonalen Berufungsgericht die Wiederherstellung der Aufschiebenden Wirkung ihrer Beschwerde zu beantragen – und zwar am selben Tag, an dem ihnen die Entscheidung der KESB zugestellt worden war und noch bevor ihr Kind ins Ausland zog. Das Gericht hätte die aufschiebende Wirkung angesichts der Dringlichkeit mit einer superprovisorischen Massnahme (Art. 265 Abs. 1 ZPO) unverzüglich wiederherstellen können.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist demgegenüber der Ansicht, dass die von der Regierung vorgeschlagenen Rechtsbehelfe keine angemessenen Erfolgsaussichten gehabt hätten. Im Fall Plazzi fand der Umzug des Kindes ins Ausland am selben Tag statt, an welchem dem Vater die Entscheidung der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde zugestellt worden war. Auch im Fall Roth, dessen Kind zwei Tage nach dem Entscheid der KESB ins Ausland zog, wären die Schweizer Gerichte nicht in der Lage gewesen, rechtzeitig eine gerichtliche Entscheidung zu fällen. Der Gerichtshof kommt damit in beiden Fällen zum Schluss, dass die Verfügungen der kantonalen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden keiner umfassenden Überprüfung durch ein nationales Gericht hätten unterzogen werden können.

Das mit der Verfügung der KESB verfolgte Ziel – der Schutz der Rechte und Freiheiten der Mütter und ihrer Kinder – stellt gemäss dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte keine Rechtfertigung für den Entzug der aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen dar. Vielmehr erachtet er diese Massnahme als unverhältnismässig. Zwar anerkennt der Gerichtshof, dass es Ausnahmesituationen gibt, in denen ein Wohnsitzwechsel für das Kindeswohl massgeblich ist. In den Fällen Roth und Plazzi waren die Richter*innen jedoch der Ansicht, dass der Schutz der Kinder vor den negativen Auswirkungen eines möglichen Rechtsbehelfs nicht ein genügend schwerwiegender Grund war, um den Beschwerdeführenden gänzlich die Möglichkeit zu nehmen, sich vor dem Entzug der aufschiebenden Wirkung an ein Gericht zu wenden. Dies gelte umso mehr, als es sich um familienrechtliches Verfahren handle, welches sehr ernste und heikle Folgen für die Beschwerdeführer haben könne sowie über die künftige Beziehung zum eigenen Kind und die Rechte gegenüber diesem entscheide. Der Gerichtshof betont deshalb, dass in familienrechtlichen Verfahren die Möglichkeit vorzusehen ist, dass Betroffene sich vor Inkrafttreten des Entzugs einer aufschiebenden Wirkung an eine*n Richter*in wenden können und auf das massgebende Verfahren aufmerksam gemacht werden müssen.

Gemeinsame elterliche Sorge: Ein Systemwechsel steht bevor

Heute sind die familienrechtlichen Zuständigkeiten zwischen dem Zivilgericht und der Kindesschutzbehörde aufgeteilt, wobei es sich bei der KESB um eine interdisziplinäre Behörde handelt, die in die Zuständigkeit der Kantone fällt (Art. 440 ZGB). Nach dem Kindes- und Erwachsenenschutzrecht von 2013 kann es sich bei der Kindesschutzbehörde um ein Verwaltungsorgan oder eine Justizbehörde handeln. Mit Justizbehörden in der Westschweiz und Verwaltungsorganen in der Deutschschweiz, im Tessin und im Jura, ist die Praxis dieser Behörden sehr uneinheitlich.

Der seit dem 1. Juli 2014 eingeführte Grundsatz der gemeinsamen elterlichen Sorge (Art. 296 ZGB) und die in Konfliktfällen geteilte Zuständigkeit der KESB und der Gerichte wurde in den letzten Jahren verschiedentlich kritisiert. Das System erweist sich in der Praxis als zu komplex und zu langsam, um insbesondere die Kinder vor anhaltenden Konflikten zu schützen. Zwar wurde im Jahr 2019 im Nationalrat ein Postulat angenommen, um die Streitverfahren in Familiensachen zu vereinfachen und schweizweit zu vereinheitlichen. In seiner Botschaft zur Änderung der Zivilprozessordnung von 2020 erkannte der Bundesrat auch die Notwendigkeit weiterer punktueller Änderungen an, sah aber trotzdem keine tiefgreifendere Revision des Verfahrens vor.

Im Zusammenhang mit der anhaltenden Kompetenzüberschneidung zwischen den Kindesschutzbehörden und den Zivilgerichten reichte schliesslich die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats im April 2022 in Postulat ein, welches in der darauffolgenden Sommersession angenommen wurde. Das Ziel: Die Zweckmässigkeit der Einführung einer Familiengerichtsbarkeit mit einem einzigen Gericht zu prüfen, das für familienrechtliche Streitigkeiten zuständig ist. Wobei dem Gang vors Gericht ein unentgeltlicher Schlichtungsversuch vorangehen soll, um die negativen Auswirkungen auf die Kinder zu begrenzen. Ebendieser Vorschlag war im Jahr 2013 aus dem Vorentwurf für das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht gestrichen worden. Angesichts der Mängel im Verfahren zur Wohnsitzverlegung von Kindern ins Ausland, welche durch die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in den Fällen Roth und Plazzi deutlich werden, scheint die Einrichtung eines Familiengerichtes mit umfassenden Kompetenzen notwendiger denn je.