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Äthiopien: Rückführungen widersprechen den Menschenrechten

30.08.2021

Während in den letzten zwei Jahren pandemiebedingt massiv weniger Flugzeuge Schweizer Boden verliessen, wurden Ausschaffungsflüge weiterhin durchgeführt – unter anderem im Januar 2021 nach Äthiopien. Ein vom Bürgerkrieg durchdrungenes Land, wo massive Menschenrechtsverletzungen stattfinden – auch ausserhalb des Konfliktherdes Tigray. Einige der geplanten Rückführungen aus der Schweiz wurden nun vorübergehend unterbunden: UNO-Ausschüsse haben aufgrund drohender Menschenrechtsverletzungen mit interim measures interveniert.

Amanuel* hätte im Januar 2021 nach Äthiopien zurückgeführt werden sollen. Dort gilt er aufgrund seines politischen Engagements als Regierungskritiker und war deshalb von der äthiopischen Polizei inhaftiert und gefoltert worden. Trotzdem erhielt er im Jahr 2014 von der Schweiz einen negativen Asylentscheid, der in Folge auch vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt wurde (BVG-Urteil D-4085/2014). Aufgrund seines politischen Engagements in der Schweiz ist die Gefahr, dass Amanuel in Äthiopien erneut inhaftiert und gefoltert würde, nun noch grösser. Trotzdem hatte er auch mit seinem Wiedererwägungsgesuch keinen Erfolg (BVG-Urteil E-4809/2020). Kurz vor seiner Ausschaffung wendete er sich mit Unterstützung des Vereins AsyLex im Januar 2021 an den UNO-Ausschuss gegen Folter (CAT). Dieser forderte die Schweizer Behörden umgehend auf, die Ausschaffung vorläufig zu unterlassen – um bis zu seiner definitiven Entscheidung nicht wiedergutzumachende Menschenrechtsverletzungen gegenüber Amanuel in Äthiopien zu verhindern.

Humanitäre Krise

Aufgrund eines bilateralen Abkommens kann die Schweiz seit November 2018 Menschen nach Äthiopien zwangsausschaffen. Die Situation vor Ort hat sich in den letzten Jahren jedoch massiv verschlechtert: In der Region Tigray herrscht ein blutiger Bürgerkrieg und die humanitäre Situation ist katastrophal: Gemäss dem UNO-Nothilfebüro sind allein in Tigray rund 1,8 Millionen Menschen am Rande einer Hungersnot, während 400'000 diese Schwelle bereits überschritten haben. In der Region sind 1,7 Millionen Menschen auf der Flucht und ganz Äthiopien zählt 2,7 Millionen Binnenvertriebene. Zehntausende sind in Nachbarländer geflüchtet. Systematische Gewalt gegen Frauen und Kinder ist – auch als Kriegswaffe – weit verbreitet. Der Konflikt und die Not breiten sich von der Krisenregion Tigray auf das ganze Land aus.

Trotzdem hält das Bundesverwaltungsgericht seit einem Grundsatzurteil von 2019 daran fest, dass Zwangsrückführungen nach Äthiopien zumutbar seien. Sogar im Januar 2021 führte das Staatssekretariat für Migration noch Ausschaffungen nach Äthiopien durch, wobei auf Rückführungen in die Region Tigray bereits verzichtet wurde. Die Migrationsbehörden ignorieren damit die Tatsache, dass die Situation in Äthiopien überregional zunehmend gefährlicher wird. Expert*innen wie auch der EU-Aussenminister befürchten mittlerweile sogar eine Destabilisierung der Nachbarstaaten.

«Das Problem ist, dass sowohl das SEM als auch das Bundesverwaltungsgericht bei Krisengebieten immer wieder zu optimistische Lageeinschätzungen vornehmen und vom «best case scenario» ausgehen. Volatile Situationen, wie aktuell an Afghanistan aufgezeigt wird, müssen mit Vorsicht und nach dem Grundsatz in dubio pro refugio beurteilt werden. Das geschieht bei Äthiopien leider nicht», so die Asylanwältin Stephanie Motz.

Rückführungen von gefährdeten Minderheiten

Besonders erschreckend ist schliesslich auch der Ausschaffungsentscheid der Schweizer Migrationsbehörden gegenüber Yonas*. Er wurde in Äthiopien nie als Staatsbürger anerkannt. Vielmehr waren er und seine Familie als Angehörige der Minderheiten Tigre und Tigrinya andauernden Schikanen durch die Behörden und Nachbar*innen ausgesetzt. Nach einer besonders brutalen Hausrazzia floh die Familie in den Sudan. Als sie wieder nach Äthiopien deportiert wurde, sass Yonas im Nachbardorf in der Koranschule und blieb deshalb alleine zurück. Nachdem er eine Weile als de-facto Staatenloser im Sudan gelebt hatte, flüchtete er in die Schweiz und stellte im Juni 2016 einen Asylantrag. Seinen negativen Asylentscheid zog er ohne Erfolg an das Bundesverwaltungsgericht weiter. Im April 2021 wendete sich Yonas mithilfe von AsyLex an den UNO-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD). Das Gremium forderte die Schweiz auf, die Zwangsrückführung von Yonas vorläufig zu unterlassen.

Gemäss Joëlle Spahni, Migrationsexpertin bei AsyLex, sind negative Asylentscheide gegenüber Angehörigen der Minderheiten Tigre und Tigrinya stossend: «In der Region herrscht momentan Bürgerkrieg. Zudem werden die Tigre und Tigrinya als Minderheit auch ausserhalb der Provinz zunehmend gewaltsam verfolgt. Sie sind in Äthiopien deshalb keinesfalls sicher.»

Geschlechterspezifische Risiken

Auch Ada* hätte im Januar 2021 mit dem Flugzeug nach Äthiopien zwangsausgeschafft werden sollen. Ihre Familie galt dort als regierungskritisch, weshalb sie von der äthiopischen Polizei schikaniert, inhaftiert, sexuell belästigt und physisch misshandelt worden war. Trotzdem fiel ihr Asylentscheid in der Schweiz im Jahr 2015 negativ aus und wurde vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt (BVG-Urteil E-4645/2015). Ada wurde 2020 in Ausschaffungshaft genommen, ihr Wiedererwägungsgesuch abgelehnt. Im Wissen darum, dass für Ada Ende Januar ein Platz in einem Ausschaffungsflug gebucht war, schrieb das Bundesverwaltungsgericht ihre Beschwerde ab (BVG-Urteil E-86/2021). Mit Unterstützung von AsyLex und Rise Law reichte Ada eine Beschwerde beim UNO-Ausschuss zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) ein, der ihre Rückführung mit einer vorsorglichen Massnahme im letzten Moment verhinderte.

Joëlle Spahni kritisiert in diesem Zusammenhang, dass frauenspezifische Gefahren von den Schweizer Asylbehörden ungenügend untersucht werden. «Das Risiko, nach einer Rückkehr Opfer von sexueller Gewalt, sexuellem Missbrauch in Haft oder aufgrund von Perspektivlosigkeit zur Prostitution gezwungen zu werden, ist für Äthiopierinnen sehr gross», so die Migrationsexpertin.

Ausschaffungen gefährden Menschenrechte

Neben der Tatsache, dass in den drei genannten Fällen die Einzelfallprüfung zu wünschen übriglässt, übt die Zivilgesellschaft grundsätzliche Kritik an den Zwangsrückführungen nach Äthiopien. So forderte die Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH im Januar 2021 aufgrund der prekären Sicherheitslage und der schweren Menschenrechtsverletzungen den sofortigen Stopp aller Ausschaffungen in das destabilisierte Land. Dieser Forderung schlossen sich auch Amnesty International Schweiz, Solidarité sans frontières und das Migrant Solidarity Network an. Die nun erfolgten Interventionen der UNO-Ausschüsse verdeutlichen, dass die andauernden Ausschaffungen von der Schweiz nach Äthiopien aus menschenrechtlicher Sicht unzulänglich sind.

Die Schweizer Migrationsbehörden und das Bundesverwaltungsgericht müssen die Warnungen der Zivilgesellschaft und die Signalwirkung der gesprochenen interim measures vonseiten der UNO ernst nehmen. Die Schweiz hat zur Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen ihren Beitrag zu leisten. Zwangsrückschaffungen in das Bürgerkriegsland Äthiopien sind deshalb auszusetzen.

*Namen geändert