humanrights.ch Logo Icon

«Frontex-Referendum» aus menschenrechtlicher Sicht

05.04.2022

Am 15. Mai stimmen die Stimmbürger*innen in der Schweiz über die «Übernahme der EU-Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache» ab. Die neue EU-Verordnung wurde vom Parlament per Bundesbeschluss genehmigt und dient der Weiterentwicklung und dem Ausbau der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Mit der Übernahme der EU-Verordnung würde die Schweiz ihre anteilsmässigen personellen und finanziellen Beträge an die europäische Grenzschutzagentur stark erhöhen.

Frontex steht seit Jahren in heftiger Kritik, weil die Agentur sich mehrfach an illegalen Push-Backs und Menschenrechtsverletzungen – unter anderem von nationalen Grenzschutzbehörden – beteiligt hat. Gegen die Gesetzesvorlage zur Übernahme der neuen EU-Verordnung wurde deshalb vom Komitee «No Frontex Referendum» unter der Leitung des Migrant Solidarity Networks das Referendum ergriffen.

Worum geht es?

Mit der EU-Verordnung 2019/1896 über die Europäische Grenz- und Küstenwache werden die EU-Verordnungen (EU) Nr. 1052/2013 und (EU) 2016/1624 ersetzt und Frontex als europäische Grenzschutzbehörde ausgebaut. Hintergrund dieser Bestrebungen sind gemäss dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union bestehende Lücken in der Kontrolle der Schengen-Aussengrenzen. Der Rechtsrahmen der Europäischen Union müsse in den Bereichen «Aussengrenzkontrollen, Rückkehr, Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität und Asylrecht (…) noch weiter verbessert werden».

Teil der Frontex-Reform sind die Erteilung eines stärkeren Mandats, der Aufbau einer ständigen Reserve von 10'000 Fachkräften bis im Jahr 2027, die Anstellung von 40 Grundrechtsberater*innen zur Unterstützung des Grundrechtsbüros, die Anschaffung eigener Schiffe, Flugzeuge und Fahrzeuge sowie die Förderung des European Border Surveillance Systems EUROSUR, welches anhand technischer Hilfsmittel die irreguläre Migration überwachen und verhindern soll.

Mit der Reform der europäischen Grenzschutzagentur steigt das Budget und damit der anteilsmässige finanzielle Beitrag der Schweiz, welche sich seit 2011 personell und finanziell an Frontex beteiligt. Durch die Übernahme der neuen EU-Verordnung würden sich die derzeit 6 Vollzeitstellen der Schweiz während 5 Jahren schrittweise auf maximal 40 Vollzeitstellen erhöhen. Der finanzielle Beitrag würde von 24 Millionen Franken im Jahr 2021 auf schätzungsweise 61 Millionen Franken bis im Jahr 2027 steigen.

Menschenrechtsverletzungen durch Frontex

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex ist seit vielen Jahren an Menschenrechtsverletzungen an den EU-Aussengrenzen beteiligt. So dokumentierte Amnesty International, dass Frontex mit der libyschen Küstenwache zusammenarbeitet, wodurch flüchtende Menschen auf dem Mittelmeer abgefangen und unter Zwang in libysche Haftanstalten zurückgebracht werden. Zudem hilft Frontex den kroatischen Behörden an der EU-Aussengrenze dabei, Personen auszumachen, welche die Grenze auf irreguläre Weise zu überqueren versuchen. Anhand von Investigativ-Recherchen wurde schliesslich aufgedeckt, dass die Agentur in Griechenland an illegalen Push-Backs beteiligt ist. Dies steht gemäss der Schweizerischen Flüchtlingshilfe «im krassen Widerspruch zum Europäischem Recht und den völkerrechtlichen Verpflichtungen». Gemäss dem völkerrechtlichen Non-Refoulement-Prinzip dürfen Menschen nicht abgeschoben werden, wenn ihnen möglicherweise Verfolgung oder Misshandlung droht.

Um zu prüfen, ob Menschen schutzbedürftig sind, müssen die Betroffenen zudem Zugang zu einem rechtsstaatlichen, fairen Asylverfahren haben. Doch genau dieses «Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu geniessen» (Art. 14 Abs. 1 AEMR) wird durch den pauschalen Ansatz von Frontex-Operationen – Menschen von der EU-Aussengrenze zurückzudrängen – zahlreichen Menschen verwehrt. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, stellte in einer Empfehlung an die Mitgliedstaaten jüngst fest, dass das Ausmass und die Normalisierung der Push-Backs an den europäischen Grenzen dringende und konzertierte Massnahmen der Regierungen und Parlamentarier*innen erfordere. Push-Backs würden neben dem Non-Refoulement-Prinzip und dem Recht auf Asyl wichtige Garantien im Rückführunsverfahren untergraben, zu Gewalt, Folter und Misshandlungen führen und manchmal sogar das Recht auf Leben gefährden.

Weiter müssen auch die sogenannten «Rechenschaftsmechanismen», welche der bedenklichen Menschenrechtsbilanz von Frontex Rechnung tragen sollen, in ihrer Wirksamkeit in Frage gestellt werden. Seit 2011 hat Frontex ein Meldesystem, Beobachter*innen für zwangsweise Rückführungen, Grundrechtsbeauftragte, ein Konsultationsforum, einen Mechanismus für Einzelbeschwerden (2016) und ein*e Grundrechtsbeobachter*in (2019) eingeführt. Diese Mechanismen dienen jedoch immer wieder als Feigenblatt: So äusserten Abgeordnete des Europäischen Parlaments im Jahr 2020 Besorgnis über Schiessereien und Todesfälle an der griechischen Aussengrenze. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, akzeptierte die Rechtfertigungen der griechischen Behörden mit dem Hinweis, es seien über das Meldesystem keine Hinweise über schwerwiegende Zwischenfälle erfolgt. Mit derselben Begründung – dem Ausbleiben gemeldeter Verstösse – haben Frontex-Direktor Fabrice Leggeri die Ablehnung von Empfehlungen des*der Grundrechtsbeauftragten gerechtfertigt und nationale Regierungen ihre illegalen Praktiken abgestritten.

Schliesslich ist Frontex nicht nur an der EU-Aussengrenze im Einsatz, sondern auch für die Planung und Durchführung von Rückführungen im gesamten Schengen-Raum zuständig. Es existieren zahlreiche Berichte, wonach Frontex bei diesen Rückführungen Gewalt anwendet und Menschenrechte verletzt. Die Grenzschutzagentur übt zudem Druck auf Nicht-EU-Länder aus, abgeschobene Flüchtlinge wieder aufzunehmen. Insgesamt arbeitet Frontex mit mehr als 20 Ländern ausserhalb der EU zusammen und treibt die Externalisierung des EU-Grenz- und Migrationsregimes weiter voran.

Ungenügende Gesetzesvorlage

Die Schweiz trägt für das europäische Migrations- und Asylrecht und die Einhaltung der Menschenrechte in Europa eine Mitverantwortung und muss ihre automatische Mitwirkung überprüfen. Mit der am 15. Mai 2022 zur Abstimmung stehenden Gesetzesvorlage steht die Beteiligung der Schweiz an den Grenzschutzmassnahmen von Frontex in keinem Verhältnis zu ihren Bemühungen zum Schutz von flüchtenden Menschen. Genau aus diesem Grund sollte die Frontex-Vorlage im parlamentarischen Verfahren mit Ausgleichsmassnahmen einhergehen. So erkannte die Sicherheitspolitische Kommission des Ständerates im Mai 2021, dass es für die Übernahme der Frontex-Weiterentwicklungen wichtige Ausgleichsmassnahmen «im Sinne der humanitären Tradition der Schweiz» braucht. Die Kommission beantragte deshalb einen Ausbau des Resettlement-Kontingents, wodurch mehr flüchtende Menschen direkt aus Krisengebieten Asyl in der Schweiz hätten erhalten können. Eine Forderung, welche bereits im Vernehmlassungsverfahren für das Gesetz von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe eingebracht worden war. Zudem beantragte die Kommission durch einen Mechanismus zur Beschwerdenbearbeitung und durch Rechtsberatung die Rechtsmittel der Asylsuchenden zu stärken. Weil die eidgenössischen Räte diese Massnahmen ablehnten, fehlt es dem zur Abstimmung stehenden Gesetz nun an wichtigen humanitären Ausgleichsmassnahmen. Bei Annahme des Referendums – und Ablehnung der Gesetzesvorlage – könnte die Vorlage erneut im Parlament beraten werden. Das Referendum bietet in dem Sinne die Chance, die menschenrechtsfeindliche europäische Migrationspolitik durch humanitäre Massnahmen in der Schweiz etwas auszugleichen.

Zudem kommen die Forderungen nach einer Reform von Frontex nicht nur aus der Schweiz. Aufgrund der menschenrechtsfeindlichen Praktiken hat das EU-Parlament im Oktober 2021 rund 12% des Budgets der Grenzschutzagentur eingefroren. Ende März 2022 verlängerte das zuständige EU-Komitee diesen Entscheid, weil Frontex die Bedingungen für eine Budgetfreigabe immer noch nicht erfüllt. Das Komitee stützte sich dabei auf Feststellungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF), welches von Belästigungen, illegalen Push-Backs und sonstigem Fehlverhalten von Frontex berichtete. Das EU-Komitee fordert, dass die Verstösse gegen die Rechtsstaatlichkeit durch Frontex umgehend adressiert werden. Eine Ablehnung der zur Debatte stehenden Vorlage durch die Schweizer Stimmbevölkerung könnte diese Kräfte im Europaparlament stärken und damit die EU, die Schengen-Staaten sowie Frontex selbst unter Druck setzen, endlich die notwendigen Reformen vorzunehmen und die Menschenrechtsverletzungen durch die europäische Grenzschutzagentur zu beenden.

Was sind die Risiken?

Demgegenüber steht die Befürchtung, dass die Schweiz bei Nicht-Übernahme der EU-Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache aus den Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen ausgeschlossen werden könnte. Vertraglich wäre das möglich, da die Schweiz durch das Schengen-Assoziierungsabkommen (SAA) grundsätzlich dazu verpflichtet ist, die Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstandes – und damit auch die EU-Verordnung 2019/1896 – innerhalb von 2 Jahren zu übernehmen. Übernimmt die Schweiz die Verordnung nicht oder nicht innerhalb der vorgesehenen Frist, gilt das Abkommen als beendet und tritt nach sechs Monaten automatisch ausser Kraft (Art. 7 Abs. 4 lit. a und c SAA). Ein gemischter Ausschuss, bestehend aus Vertreter*innen der Schweizer Regierung, dem Rat der Europäischen Union sowie der EU-Kommission, hat daraufhin 90 Tage Zeit, eine einstimmige Lösung zu finden. Gelingt dies nicht oder nicht innerhalb der vorgesehenen Frist, fällt das Schengen-Vertragswerk nach 3 Monaten automatisch dahin (Art. 7 Abs. 4. SAA). Aufgrund der kleinen «Guillotinen-Klausel» würde daraufhin auch das Dublin-Assoziierungsabkommen aufgelöst, so Sarah Progin-Theuerkauf, Professorin für Europa- und Migrationsrecht an der Universität Freiburg.

Rainer J. Schweizer, Professor für öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität St. Gallen, bringt demgegenüber ein, dass die Schweiz seit 2008 rund 370 Rechtsakte im Rahmen von Schengen und Dublin von der EU übernommen hat und die umfassende Verflechtung zahlreicher Institutionen – Polizei, Justiz, Zoll- und Steuerbehörden etc. – keinen automatischen Ausschluss der Schweiz aus den Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen gemäss der «Guillotine-Klausel» erlaube. Vielmehr wäre ein umfassendes Austrittsvertrag nach Vorbild des Brexit-Austrittabkommens notwendig. Deshalb könne und müsse jetzt über eine Verbesserung des rechtlichen Engagements der Schweiz bei Frontex geredet werden.

In der Praxis zeigen sich durchaus gewisse Spielräume: So hat die EU bei Referenden gegen Schengen-Weiterentwicklungen bis anhin stets die Abstimmung abgewartet – so etwa auch bei der Umsetzung der EU-Waffenrichtlinie im Schweizer Waffenrecht oder der Einführung biometrischer Pässe. Weil die Umsetzung der Weiterentwicklungen bis anhin stets absehbar war, wurde auf Sanktionen verzichtet. Auch bei der aktuellen Schengen-Weiterentwicklung ist die zweijährige Frist bereits überschritten: Die Schweiz wurde am 15. November 2019 über die Frontex-Verordnung notifiziert, womit die Frist zur Übernahme am 15. November 2021 abgelaufen ist. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass die EU der Schweiz bei Annahme des Referendums Zeit einräumt, um die Gesetzesvorlage anzupassen und die EU-Verordnung zu Frontex mit etwas Verspätung umzusetzen. Immerhin entscheidet die Stimmbevölkerung am 15. Mai 2022 über die nationale Umsetzung der EU-Verordnung, nicht über das Schengen- oder das Dublin Assoziierungsabkommen an sich. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Schweiz das weitere Vorgehen rasch an die EU kommuniziert.

Eine menschenrechtliche Perspektive

Während zwischen den EU- und Schengen/Dublin-Mitgliedstaaten die Grenzkontrollen abgeschafft wurden und die Personenfreizügigkeit gilt, wird die Zuwanderung von aussen als Sicherheitsproblem und ausschliesslich unter dem Aspekt der illegalen Migration und Einwanderung diskutiert. Diese Abschottungspolitik – welche Frontex verkörpert und umsetzt – ergeht auf Kosten der Menschenrechte und fördert nicht zuletzt rassistische Narrative. Die Schweiz darf dieses System durch ihre Beteiligung nicht unhinterfragt unterstützen oder gar fördern.

Ein Rückzug der Schweiz aus den Schengen-/Dublin-Assoziierungsabkommen ist insofern kontraproduktiv, als sie damit ebenso ihren Einfluss auf die europäische Flüchtlingspolitik und die Ausrichtung von Frontex verlieren würde. Dabei darf aber nicht ausser Acht gelassen werden, dass sie auf Basis des Dublin-Assoziierungsabkommens selbst an der verfehlten Asylpolitik Europas beteiligt ist. Unter anderem auf Basis der Dublin-III-Verordnung schiebt die Schweiz immer wieder Menschen in Staaten ab, in welchen ihnen Menschenrechtsverletzungen drohen. Sie wurde dafür bereits mehrfach von UNO-Vertragsgremien gerügt.

Mit einer Annahme des Referendums erhält die Schweiz die Gelegenheit, auf dem internationalen Parkett eine Debatte auszulösen und wichtige Forderungen an Frontex in den Diskurs einzubringen. So muss die europäische Grenzschutzagentur für mehr Sicherheit für Schutzsuchende Menschen sorgen, sich klar gegen illegale Abschiebungen positionieren und eine erhöhte Rechenschaftspflicht tragen – durch die Überwachung von Menschenrechtsverletzungen und unabhängigen, zufriedenstellenden Beschwerdemechanismen.

In Anbetracht der durch Frontex mitzuverantwortenden Menschenrechtsverletzungen an den EU-Aussengrenzen und der gleichzeitig mangelnden Sicherheit für schutzsuchende Menschen ist die Übernahme der neuen EU-Verordnung ohne innerstaatliche humanitäre Ausgleichsmassnahmen aus menschenrechtlicher Perspektive unhaltbar. Der «Menschenrechtsstaat» Schweiz steht in der Pflicht, die verfehlte Migrationspolitik Europas innerstaatlich abzufedern – etwa mit der Erhöhung des Resettlement-Kontingents, erleichterter Familienzusammenführung, der Wiedereinführung des Botschaftsasyls oder der grosszügigeren Aufnahme von flüchtenden Menschen. Mit der Annahme des Referendums – und der Ablehnung der Gesetzesvorlage – wird dazu eine neue Gelegenheit geschaffen.

Weiterführende Informationen