28.03.2023
Das Jahr 2022 war für die Beratungsstelle Freiheitsentzug eine Zeit des Umbruchs und der Veränderung. David Mühlemann, der die Beratungsstelle seit Februar 2017 aufgebaut hatte, verliess humanrights.ch per Mai, um sich im Rahmen eines Doktorats weiter im Thema Freiheitsentzug zu vertiefen. Mit dem Stellenantritt seiner Nachfolgerin Alexandra Hansen kommt neuer Wind in das Beratungsangebot, gleichzeitig endet die Pionierphase.
Dank dem Einsatz drei engagierter Anwälte und dem Team der Geschäftsstelle von humanrights.ch konnte die Übergangsphase in der Beratungsstelle gut über die Bühne gebracht werden. Sämtliche Aktivitäten der Fach- und Beratungsstelle konnten aufrechterhalten werden. Ein grosser Erfolg sind die Spendeneinnahmen und Gönner*innenbeiträge, die das zweite Jahr in Folge so hoch waren, dass die minimale Grundstruktur der Beratungsstelle (Lohnkosten der Leitung und Beratung) damit gedeckt werden konnten.
Zahlen & Fakten 2022
Der personelle Wechsel führte keineswegs zu einem Rückgang in den Beratungsanfragen. Die Telefonhotline wurde weiterhin am Donnerstagnachmittag bedient, ebenso wurden die brieflichen Beratungen weitergeführt.
Im 2022 kamen neben den bereits laufenden Fällen 147 neue Einträge in das Fallerfassungssystem. Von den ratsuchenden Personen waren 83% männlichen Geschlechts, rund die Hälfte waren Inhaftierte, ein guter Drittel Angehörige. Auch Anwält*innen oder andere Fachpersonen und Journalist*innen meldeten sich bei der Beratungsstelle. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass gewisse Personen über mehrere Jahre mehrmals anrufen, auch aus unterschiedlichen Institutionen. Im Fallerfassungssystem wird dies nur im Jahr der ersten Kontaktaufnahme als Fall aufgezeichnet.
Im 2022 kamen die meisten neuen Fälle aus dem RG Burgdorf (15), JVA Hindelbank (14), JVA Solothurn (9), JVA Lenzburg (8), JVA Thorberg (8), JVA Cazis Tignez (6), Interkantonale Strafanstalt Bostadel (5) und aus dem Prison du Bois-Mermet (4). Die restlichen Fälle verteilten sich breit über die verschiedenen Vollzugseinrichtungen in der Schweiz. Dank der Mund-zu-Mund Propaganda kam es vor, dass sich punktuell die Anfragen aus derselben Einrichtung häuften. Bis heute ist einzig im RG Burgdorf Informationsmaterial zur Beratungsstelle aufgelegt worden. Angesichts der limitierten Ressourcen in der Beratungsstelle sind wir mit dem Ausbau der Werbung zurückhaltend, trotz grossem Bedarf.
Die meisten Anfragen stammten aus dem Strafvollzug (80), gefolgt von Anfragen aus der U-Haft (47) und dem stationären Massnahmenvollzug (29). Zusammenfassend konnten folgende Brennpunkte definiert werden:
- Die Haftbedingungen und Perspektiven im Freiheitsentzug ganz allgemein
- das Vertrauensverhältnis zur amtlichen Verteidigung und der Staatsanwaltschaft sowie der Polizei
- Fragen rund um psychiatrische Gutachten
- Die Gesundheitsversorgung
Im Zusammenhang mit Fragen zur Verwahrung melden sich viele Betroffene regelmässig. Hier geht es insbesondere um die Ausgestaltung des Vollzugs. Ausserdem kamen Anfragen zur ambulanten Massnahme, Polizeihaft, ausländerrechtlichen Administrativhaft, fürsorgerischen Unterbringung, Auslieferungshaft und zum vorzeitigen Strafvollzug.
Information & Öffentlichkeitsarbeit
Das Jahr 2022 war durch die Ereignisse im Fall «Brian» geprägt, den wir seit Längerem mitverfolgen. Die von uns laufend aktualisierte Brian-Chronik wurde im ganzen Jahr rund 15'000 Mal aufgerufen und in der SRF- Clubsendung vom 22. November 2022 wurde in der Diskussionsrunde darauf verwiesen. Am 24. Januar war David Mühlemann als Fachperson zur Podiumsdiskussion zum Fall Brian im Kosmos eingeladen. Hier wurde die Rassismus Debatte in den Fall gebracht. Das Video kann hier angeschaut werden (ab Minute 15): KOSMPPOLITICS – Schwarz im Gefängnis.
Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt war und ist das «Recht auf Leben», die Beratungsstelle begleitet zu diesem Thema die Angehörigen von drei jungen Männern, die im Freiheitsentzug verstorben sind. Wichtig für diese Begleitung ist die Aufarbeitung der Grundlagen, die wir in einem Artikel «Recht auf Leben» Mitte 2022 publiziert haben. Um auf das Thema aufmerksam zu machen und die Tragweite zu dokumentieren, führen wir eine Liste mit den Todesfällen im Freiheitsentzug, die laufend aktualisiert wird.
Schliesslich zog David Mühlemann in einem Interview eine Abschlussbilanz zu seiner Tätigkeit als Leiter der Beratungsstelle Freiheitsentzug. Er thematisierte insbesondere auch die Herausforderungen, ein solches Beratungsangebot aufzubauen und zu finanzieren.
Stärkerer Fokus auf Angehörige
Viele Anfragen an die Beratungsstelle kommen von den Angehörigen. Wie erwähnt sind Todesfälle in Haft ein Kernthema und die Beratungsstelle unterstützt drei Prozesse, bei denen Angehörige eng begleitet werden. Deswegen wird die Beratungsstelle ab 2023 die Angehörigenarbeit stärker in den Fokus nehmen. Hierbei werden wir vom Bernischen Verein für Gefangenen- und Entlassenenfürsorge (BeVGe) unterstützt.
Konkret bedeutet dies, dass im Fallerfassungssystem die Beziehung der Angehörigen zur Person im Freiheitsentzug detaillierter erfasst wird und auf der Website zusätzliche Informationen und Beratungsangebote für Angehörige verlinkt werden. Im 2022 wirkte die Beratungsstelle an einem Dok-Film über Angehörige mit, der im 2023 erscheinen wird und den wir über unsere Kanäle verbreiten werden. Im Frühjahr 2023 wird ein Artikel zum Thema «rechtliche Stellung von Kindern inhaftierter Eltern» erscheinen.
Konsolidierung & Qualitätssicherung
Da im 2022 zusätzlich und unerwartet institutionelle Gelder erschlossen werden konnten, können diese Spendengelder als Reserve sowie zur Entlastung der Grundstruktur eingesetzt werden. Die entsprechenden Reserven im Projekt werden nun für den Ausbau bzw. die Qualitätssicherung der Beratungsstelle eingesetzt. Es ist geplant, dass wir eine weitere Person (ca. 20%) für die Beratungshotline einstellen, um der grossen Anzahl an Beratungsanfragen gerecht werden zu können. Diese neue Aufteilung der Aufgaben würde es uns erlauben, die über die Hotline identifizierten Brennpunkte vertieft und zeitnah weiterzuverarbeiten. Nur so können die Brennpunkte und Problemfelder mit Fallbeispielen belegt gegen aussen kommuniziert werden und ist ein Wissenstransfer sowie eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit erst möglich. Das Jahr 2023 steht also im Zeichen der Konsolidierung und Qualitätssicherung. Es sei an dieser Stelle aber darauf hingewiesen, dass noch immer mit Minimalstrukturen gearbeitet werden muss, die den Bedarf in keiner Weise abdecken.
Helfen Sie uns, die Beratungsstelle weiterzuentwickeln. Ihre Spende hilft uns dabei, die Beratungen weiter auszubauen und die Qualität der Beratungen zu sichern.
kontakt
Livia Schmid
Leiterin Beratungsstelle Freiheitsentzug
livia.schmid@humanrights.ch
031 302 01 61
Bürozeiten: Di/Do/Fr