13.05.2022
Seit 2017 existiert die Rechtsberatung für Menschen in Freiheitsentzug und ihre Angehörigen bei humanrights.ch. Was sich nach 5 Jahren und 690 Beratungen zeigt: Wir sind in der Schweiz noch weit von dem international geforderten wirksamen Rechtsschutz für Gefangene entfernt. Um die Hürden im Zugang zum Recht von Gefangenen abzubauen, muss die niederschwellige Rechtsberatung staatlich gefördert und ausgebaut werden.
Interview mit David Mühlemann, der die Beratungsstelle bei humanrights.ch aufgebaut hat. Er verlässt humanrights.ch per Ende Juni 2022, um sich im Rahmen einer Doktorarbeit in dieses Thema zu vertiefen.
Darum geht es in den Beratungen
Seit 5 Jahren bietet humanrights.ch jeweils am Donnerstagnachmittag von 12-18 Uhr eine Telefonhotline für Gefangene und ihre Angehörigen an. humanrights.ch setzt sich damit als einzige Menschenrechtsorganisation schweizweit dafür ein, den Anspruch der Gefangenen und ihren Angehörigen auf eine niederschwellige Rechtsberatung zu verwirklichen. Neben der Telefonberatung besteht die Möglichkeit der Kontaktaufnahme per E-Mail oder auf dem Postweg. In den letzten fünf Jahren haben wir so rund 690 Falldossiers bearbeitet. Einzelne Personen begleiten wir schon fast seit Beginn. So etwa Mustafa Nasar, der mittlerweile seit 10 Jahren ohne rechtskräftiges Urteil in der Schweiz inhaftiert ist.
In der Beratung geht es in einem ersten Schritt darum, durch empathisches, aktives Zuhören das Vertrauen zu gewinnen. Denn Vertrauen ist zentrales Element für eine sinnvolle Rechtsberatung. In diesem Bereich verorten wir in den Institutionen, aber auch bei Anwält*innen, insbesondere bei Pflichtverteidiger*innen von Menschen in U-Haft grossen Nachholbedarf. Eine fürsorgliche Interpretation des Verteidigungsauftrags wäre hier besonders wichtig. Neben entsprechenden Zusatzausbildungen oder Supervisionen fehlt es hier den Anwält*innen wohl auch an den nötigen Ressourcen im Arbeitsalltag.
In einem zweiten Schritt geht dann ganz einfach darum, den Menschen ihre Rechte überhaupt aufzuzeigen. Denn hier gibt es eine riesige Lücke: Niemand erklärt den Gefangenen oder ihren Angehörigen beim Strafantritt ihre Rechte. Wir bieten ihnen hier eine wichtige Orientierung. Schwierig zu vermitteln ist, dass es bei rechtswidrigen Zuständen keinen Knopf gibt, den man zur Verbesserung der Situation drücken könnte. So etwa im Bereich der Verwahrung nach Artikel 64 Strafgesetzbuch oder in der U-Haft. Die Personen sind hier äusserst restriktiven Haftbedingungen ausgesetzt, welche das zentrale rechtstaatliche Prinzip der Verhältnismässigkeit verletzen.
Während dem Strafvollzug ersuchen uns viele Betroffene um Rat bei Entscheiden der Vollzugsbehörden. Etwa, wenn eine bedingte Entlassung nach Zweidritteln der Strafe verweigert wird. Oder wenn der Urlaub nicht gewährt wird. Oder wenn sie sich in einem falschen Haftsetting befinden. Viele Inhaftierte warten sehr lange in einem Regionalgefängnis, bis sie in eine für den Vollzug vorgesehene Strafanstalt oder in eine Massnahmeeinrichtung verlegt werden. Hinzu kommen Themen und Grundrechtseingriffe, die den Alltag der Gefangenen innerhalb der Einrichtungen betreffen. Es geht da beispielsweise um die Finanzen der Inhaftierten oder Disziplinierungen – etwa durch Bunkereinschluss –, aber auch um subtile Formen des Machtmissbrauchs durch diskriminierende Sprüche und Behandlungen.
Das sind die Herausforderungen
Gefangene sind eine sehr vulnerable Gruppe mit sehr wenig Ressourcen. Oftmals stehen sie alleine da, sobald das Strafverfahren abgeschlossen ist und der/die Pflichtverteidiger*in das Mandat niederlegt. Gefangene verfügen oft weder über ein familiäres Umfeld, das sie unterstützen könnte, noch über die finanziellen Mittel, um sich eine*n Rechtsanwält*in zu leisten. Die Menschen im Gefängnis haben auch keine Lobby oder eine Gewerkschaft, die ihnen eine Stimme geben könnte.
Wenn das Ziel ein menschenwürdiger Strafvollzug sein soll, muss ihre Perspektive im Zentrum stehen. Hierzu braucht es mehr zivilgesellschaftliche Organisationen mit genügend Ressourcen, welche dieser Bevölkerungsgruppe eine Stimme geben.
Ausserdem muss der Zugang zum Recht für Gefangene und ihre Angehörigen dringend verbessert werden. Hierzu müssen bestehende Rechtsberatungsangebote gefördert oder unabhängige Ombuds- und Beschwerdestellen geschaffen werden.
Fehlende Finanzierung
Davon sind wir aber weit entfernt: Das Beratungsangebot bei humanrights.ch ist nach der Pilotphase nun ganz auf sich selber gestellt. Die meisten institutionellen Geldgeber*innen, die das Projekt in der Pilotphase unterstützt haben, sind ausgestiegen bzw. die Finanzierung wird in den nächsten zwei Jahren auslaufen. Das Beratungsangebot muss deswegen an private Gönner*innen gelangen. Bei potenziellen Geldgeber*innen und in der Gesellschaft fehlt es aber allgemein an einem Bewusstsein für die Bedeutung eines menschenwürdigen Strafvollzugs.
Zum Interview mit David Mühlemann
Der Freiheitsentzug kann uns alle betreffen: Sei es, weil wir selber in eine Situation kommen, in denen wir straffällig werden. Oder aber, weil Angehörige von uns – zum Beispiel unsere Kinder oder unsere Partner*innen – im Gefängnis landen. Es liegt in unser aller Interesse, dass Gefangene nach der Haftentlassung in der Gesellschaft wieder Tritt fassen.
Helfen Sie uns dabei, uns für einen menschenwürdigen Freiheitsentzug einzusetzen und unterstützen Sie uns mit einer Spende!
kontakt
Livia Schmid
Leiterin Beratungsstelle Freiheitsentzug
livia.schmid@humanrights.ch
031 302 01 61
Bürozeiten: Di/Do/Fr