humanrights.ch Logo Icon

Humanitäre Interventionen: militärische Operationen zum Schutz der Menschenrechte

24.08.2015

Humanitäre Interventionen sind höchst umstrittene Formen militärischer Gewaltanwendung mit dem Ziel der Vermeidung und Beendigung schwerer Menschenrechtsverletzungen. Eine humanitäre Intervention findet statt, wenn ein Staat, eine Gruppe von Staaten oder eine internationale Vereinigung militärisch in einem fremden Luftraum oder Staatsgebiet interveniert, um die Bevölkerung des fremden Staates vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen.

Militärische Einsätze zum Schutz der Menschenrechte gibt es seit dem Ende des Kalten Krieges; sie blieben aber immer umstritten – sowohl in der Theorie wie in der Praxis.

Was ist eine humanitäre Intervention?

Die Theorie der humanitären Intervention stützt sich auf historische Präzedenzfälle und auf die Theorie des gerechten Krieges: Demnach ist eine humanitäre Intervention durch drei Merkmale charakterisiert: 1. Entsendung von Truppen in ein fremdes Staatsgebiet, 2. legitimierende Autorität des UNO-Sicherheitsrats und 3. legitime Begründung.

Entsendung von Truppen in ein fremdes Staatsgebiet

Die Entsendung von Truppen ins Ausland stellt normalerweise eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und des damit verbundenen Interventionsverbotes dar, die in der UNO-Charta Art. 2, Par. 4 und 7 festgeschrieben sind. Die Theorie der humanitären Intervention beruft sich ihrerseits auf das Kap. VII der UNO-Charta, welches nach Feststellung einer Bedrohung des Weltfriedens gezielte militärische Interventionsmöglichkeiten rechtfertigt. Dabei gilt der militärische Einsatz immer als «ultima ratio», nachdem alle diplomatischen und friedlichen Strategien gescheitert sind.

Legitimierende Autorität des UNO-Sicherheitsrats

Die kriegerische Operation kann sowohl von einem einzelnen Staat als auch von einer Gruppe von Staaten oder einer übernationalen Organisation geführt werden. In der Regel wird die Auffassung vertreten, dass der UNO-Sicherheitsrat als oberste übernationale Autorität über eine humanitäre Intervention entscheiden muss. Dieser Punkt ist aber sehr kontrovers. In der Praxis wurden gewisse humanitäre Interventionen auch ohne die Einwilligung des UNO-Sicherheitsrats geführt (z.B. der NATO-Angriff in Kosovo).

Legitimer Grund

Schliesslich ist die humanitäre Intervention durch die Verteidigung der Zivilbevölkerung eines fremden Staates vor schweren systematischen Menschenrechtsverletzungen charakterisiert. Gemäss dem 2005 World Summitt Outcome der UNO-Generalversammlung zählen dazu der Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. (Vgl. dazu näher unser Dossier).

Zwischenfazit

Aufgrund dieser drei Merkmale unterscheidet sich die humanitäre Intervention von anderen legitimen Interventionsformen in Konfliktsituationen ebenso wie von nicht-kriegerischen Massnahmen (diplomatischer Druck, ökonomische Sanktionen, humanitäre Hilfe) oder von UNO-Blauhelmeinsätzen (Peacekeeping- und Peace-enforcement-Operationen). Die Operationen von Blauhelmsoldaten haben die Beendigung von Konflikten zum Ziel und nicht spezifisch die Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen.

Historische Entwicklung der humanitären Intervention

Beispiele von militärischen Interventionen für den Schutz fremder Bevölkerungsgruppen vor ihrer Vernichtung existieren avant la lettre seit der frühen Neuzeit. Das Konzept der humanitären Intervention entwickelte sich aber erst am Ende des Kalten Krieges, als der Ost-West-Gegensatz aufgehoben wurde und der UNO-Sicherheitsrat eine aktive internationale Friedenspolitik führen konnte. Klassische Beispiele von humanitären Interventionen sind die Interventionen in Irak (1991), Somalia (1992) und Haiti (1994), die vom UNO-Sicherheitsrat gutgeheissen wurden.

Ihre Rechtfertigung hing von schweren Menschenrechtsverletzungen ab, die als Bedrohungen des Weltfriedens qualifiziert wurden. Gegen diese Interventionen erhoben sich aber viele kritische Stimmen, nicht nur wegen ihrer kontroversen rechtlichen Begründung, sondern auch wegen ihrer schwachen Wirkungskraft.

Noch umstrittener war die NATO-Intervention in Kosovo (1999), die ohne die Erlaubnis des UNO-Sicherheitsrates durchgeführt wurde. Ein schweres Debakel erlitt die Weltfriedensstrategie der UNO mit dem rwandischen Genozid im Jahre 1994. Trotz Warnungen von Blauhelmsoldaten, die in Rwanda seit Jahren tätig waren, verweigerte der UNO-Sicherheitsrat eine humanitäre Intervention.

Seit dem 11. September 2001 beschäftigte sich die internationale Gemeinschaft immer stärker mit antiterroristischen Kriegsoperationen. Vom UNO-Sicherheitsrat gebilligte humanitäre Interventionen verloren an Wichtigkeit und wurden nur noch in den Salomoneninseln (2003) und in Libyen (2011) geführt. Obwohl die UNO-Generalversammlung schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen in Syrien seit 2012 festgestellt hat, fehlt im Sicherheitsrat bis heute der Konsens für eine militärische Intervention.

Die «Responsibility to protect»

Nach den Fehlschlägen der 1990-er Jahre, vor allem in Srebrenica und in Rwanda, forderte der damalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan mit seinem Millenniumbericht 2000 die UNO-Generalversammlung auf, ernsthaft über das Thema der militärischen Menschenrechtsverteidigung nachzudenken.

Als erste Reaktion auf diesen Bericht erschien 2001 eine Studie mit dem Titel «Responsibility to protect», die von der kanadischen Regierung in Auftrag gegeben worden war. Die Studie postuliert eine Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft, wenn ein Staat seine Bürgerinnen und Bürger vor schweren Menschenrechtsverletzungen nicht schützen kann oder will. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kamen auch zwei UNO-Berichte, A More Secure Worldund In Larger Freedom, sowie die Resolution der UNO-Generalversammlung 2005 World Summitt Outcome. Diese Resolution vertritt die These, dass, wenn ein Staat nicht fähig oder willens ist, seine Bevölkerung vor Genozid, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verteidigen, die internationale Gemeinschaft die Schutzverantwortung trägt und dass sie, gemäss UN-Charta Kap.VII, mit diplomatischen und wenn nötig militärischen Mitteln intervenieren soll.

Nach der UNO-Resolution von 2005 wurde das Konzept der «Responsibility to protect» weiterentwickelt und seit 2008 existiert ein UNO-Sonderberater für die Schutzverantwortung, der in engem Kontakt mit dem UNO-Sonderberater für die Prävention von Völkermord arbeitet. Viele Fachpersonen und Staaten streben heutzutage nach einer besseren Regelung militärischer Menschenrechtsinterventionen. Auf der rechtlichen Ebene fordern sie klare Vorschriften für humanitäre Interventionen im Völkerrecht und eine Stärkung der Rolle des UNO-Sicherheitsrates als legitimierender Autorität. Auf der praktischen Ebene verlangen viele Stimmen eine bessere Koordination zwischen internationalen und regionalen Schutzinstitutionen.

Einwände und Repliken

Humanitäre Interventionen stossen häufig auf Kritik und werfen vielfältige Streitfragen auf. Die wichtigsten Einwände gegen die humanitäre Intervention betreffen das Problem des Interventionsrechts, die komplexe Beziehung zwischen staatlicher Souveränität und universellem Menschenrechtsanspruch und schliesslich das moralische Dilemma der Gewaltausübung.

Intervention und Nicht-Intervention

Über die Rechtmässigkeit von humanitären Interventionen wird heftig debattiert. Das Recht der Völker auf Selbstbestimmung und das damit verbundene Verbot der Intervention und der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates gehören zu den grundlegenden Prinzipien des geltenden Völkerrechts. Deshalb plädieren einige Völkerrechtsexpert*innen für ein absolutes Interventionsverbot und beklagen, dass humanitäre Interventionen immer eine Verletzung des internationalen Rechts darstellen. Allerdings hat der UNO-Sicherheitsrat einige humanitäre Interventionen aufgrund der UNO-Charta Kap.VII rechtlich gestützt (vgl. oben).

Staatliche Souveränität und internationale Gültigkeit der Menschenrechte

Alle souveränen Staaten haben ein Recht darauf, dass andere Staaten sich nicht in ihre inneren Angelegenheiten einmischen. Die Bürgerinnen und Bürger dieser Staaten sind gleichzeitig Träger*innen von international gültigen Menschenrechten und haben ein Recht darauf, vor schweren Menschenrechtsverletzungen geschützt zu werden. Wenn nun ein Staat schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Teile seiner eigenen Bevölkerung begeht, so kollidiert die staatliche Souveränität mit dem universellen Anspruch der Menschenrechte.

Gegen die Theorie der humanitären Intervention wird häufig eingewandt, dass der militärische Menschenrechtsschutz ein Instrument des westlichen Imperialismus sei. In der Tat beweist die Praxis, dass die Entscheidung westlicher Staaten, in fremden Staatsgebieten militärisch zu intervenieren oder nicht zu intervenieren, nicht selten auch von strategischen, machtpolitischen und ökonomischen Interessen abhängt

Das moralische Dilemma

Einer der bekanntesten Einwände gegen die humanitäre Intervention stützt auf das sogenannte «moralische Dilemma». Da die humanitäre Intervention in einer kriegerischen Operation besteht und dementsprechend menschliche Opfer in Kauf nehmen muss, stellt sich die Frage, ob der Schutz von Menschenrechten durch die Verletzung und Tötung von Menschen (möglicherweise auch von unbeteiligten Zivilpersonen) erzielt werden darf. Die Moralphilosophie beantwortet diese Frage aus zwei Perspektiven. Aus einer prinzipiellen Perspektive, die von einem absoluten Tötungsverbot ausgeht, ist die Gewaltausübung immer unannehmbar. Aus einer wirkungsbezogenen Perspektive dagegen können die menschlichen Kosten des Krieges durch die positiven Folgen der Intervention moralisch legitimiert werden.

Gibt es Alternativen?

Die oben vorgestellten Einwände gegen das Konzept der humanitären Intervention beweisen, wie strittig und komplex es ist, Menschenrechte durch kriegerische Handlungen schützen zu wollen. Trotz der theoretischen Schwächen des Konzepts der humanitären Intervention erkennen die meisten Rechtstheoretiker*innen, dass in vielen Situationen kaum eine Alternative zum militärischen Einsatz existiert. Ein strenges Interventionsverbot hätte in einigen Fällen zur Folge, gegenüber schweren Menschenrechtsverletzungen machtlos bleiben zu müssen.

Auf der andern Seite ist in Erinnerung zu rufen, dass eine klare Regelung der humanitären Interventionen im internationalen Recht unabdingbar ist, um diese Ultima Ratio künftig vor dem Missbrauch durch einzelne mächtige Staaten oder Staatenverbünde zu schützen.

Weiterführende Quellen