humanrights.ch Logo Icon

Wie steht es um die inklusive Bildung in der Schweiz?

01.12.2017

Nach dem integrativen Besuch eines Regelkindergartens verweigerte das Amt für Volksschule des Kantons Thurgau einem Jungen mit Trisomie 21 die Einschulung in die Regelschule und verfügte - gegen den Willen der Eltern - den Eintritt in eine Sonderschule. Der betroffene Junge und seine Eltern gelangten mit dem Fall bis vor Bundesgericht, welches, mit Urteil vom 23. Mai 2017 (BGE 2C_154/2017), den Entscheid zur separativen Beschulung stützte und die Beschwerde abwies.

Im folgenden Artikel wird zunächst näher auf den erwähnten Bundesgerichtsentscheid eingegangen. Im Anschluss folgt eine Analyse von Art. 24 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK), welcher die integrative Bildung auf allen Ebenen vorsieht. Der dritte Abschnitt widmet sich dem aktuellen Diskussionsstand in der Schweiz.

Bundesgericht stützt Einschulung in Sonderschule

Das Bundesgericht musste im Fall BGE 2C_154/2017 beurteilen, ob die Einschulung eines Jungen mit Trisomie 21 in eine Sonderschule mit dem Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 BV), dem Vorrang der integrativen Beschulung (Art. 20 Abs. 2 Behindertengleichstellungsgesetz) und dem Anspruch auf Grundschulunterricht (Art. 19 BV i.V.m. Art. 62 Abs. 3 BV) vereinbar ist, obwohl der Betroffene und seine Eltern die Einschulung in der Regelschule bevorzugen.

Der Vorrang der integrativen Beschulung wird vom Bundesgericht mit Verweis auf Art. 8 BV, Art. 20 BehiG und Art. 24 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) klar bestätigt. Dieser führe jedoch nicht dazu, dass jede separative Sonderschulung per se einen Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot und den Vorrang der integrativen Beschulung darstelle. Die ungleiche Behandlung könne insbesondere im schulischen Bereich angezeigt sein, denn jedes Kind solle seinen intellektuellen Fähigkeiten entsprechende Schulen besuchen können. Massgebend sei in erster Line das Wohl des betroffenen Kindes. Das Diskriminierungsverbot dürfe nicht dazu führen, dass Kinder entgegen ihrem Wohl in eine Regelklasse integriert werden. Der Entscheid zur separativen Beschulung durch die Vorinstanzen knüpfe nicht an ein diskriminierendes Element an, sondern an Beobachtungen und Erfahrungen. Das Bundesgericht verneint somit im vorliegenden Fall eine Verletzung des Diskriminierungsverbots und des Grundsatzes der Integration in die Regelschule.

Zu einer allfälligen Verletzung des Anspruchs auf Grundschulunterricht führt das Bundesgericht zunächst aus, dass für das Schulwesen in der Schweiz die Kantone verantwortlich sind. Sie müssen insbesondere sicherstellen, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen eine Grundausbildung erhalten, die ihren besonderen Bedürfnissen entspricht. Bei der konkreten Ausgestaltung des Schulwesens geniessen die Kantone grosse Gestaltungsspielräume. Insofern verpflichte der verfassungsmässige Anspruch auf unentgeltlichen Grundschulunterricht die Kantone nicht «zur optimalen bzw. geeignetsten Schulung des Kindes». Es besteht somit kein verfassungsmässiger Anspruch auf integrative Schulung.

Aufgrund dieser Überlegungen kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass der Entscheid der Vorinstanzen zur separativen Beschulung des Beschwerdeführers kein Verstoss gegen Bundesrecht darstelle und weist die Beschwerde ab.

Das Recht auf Bildung gemäss Art. 24 BRK

Mit der Ratifikation des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im April 2014 verpflichtete sich die Schweiz neben der Anerkennung des Rechts auf Bildung von Menschen mit Behinderungen auch zur Gewährleistung eines integrativen Bildungssystems auf allen Ebenen (Art. 24 Abs. 1 BRK). Dazu müssen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass der Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen für Menschen mit Behinderungen gewährleistet ist (Art. 24 Abs. 2 lit. b BRK).

Der Wortlaut von Artikel 24 BRK lässt bereits erkennen, dass der vom Bundesgericht propagierte Vorrang der integrativen Beschulung nicht den Vorgaben der Konvention entspricht. Letztere sieht eben gerade kein duales System mit Sonderschulen vor.

Allfällige Unklarheiten in Bezug auf die innerstaatliche Umsetzung räumte der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen im August 2016 mit der Allgemeinen Bemerkung Nr. 4 aus. Der Ausschuss hält fest, dass Staaten, welche neben dem regulären Schulsystem weiterhin ein Sonderschulsystem aufrechterhalten, die Verpflichtung zur Schaffung eines integrativen Bildungssystems nicht erfüllen.

Reaktionen auf den Bundesgerichtsentscheid

Die Haltung des Bundesgerichts, wonach die inklusive Schulung gemäss BRK nicht über die bundesrechtlichen Garantien hinaus gehe und keine absoluten Ansprüche vermittle, steht somit im Widerspruch zu Art. 24 BRK. Es erstaunt nicht, dass der angesprochene Bundesgerichtsentscheid von mehreren schweizerischen Behindertenorganisationen kritisiert wurde. Für die Elternorganisation insieme ist der Entscheid des Bundesgerichts eine Bestätigung dafür, «dass noch ein weiter Weg zur inklusiven Schule zu gehen ist.». Insieme weist jedoch auch darauf hin, dass es viele Fälle gibt, in denen Inklusion in der Schule dank dem Engagement der Beteiligten funktioniere. Für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen sei es zentral, dass alle Beteiligten die Vorteile der integrativen Schulung kennen.

Inclusion Handicap (Dachverband der Behindertenorganisationen in der Schweiz) kritisiert am vorliegenden Bundesgerichtsentscheid, «dass der Inhalt von Art. 24 der UNO-Behindertenrechtskonvention in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht in seiner vollen Tragweite anerkannt wird.». Dieser Umstand verdeutliche die Bedeutung der Entwicklung einer Strategie zur Umsetzung inklusiver Bildungssysteme.

Die Umsetzung von Art. 24 BRK in der Schweiz

Eine umfassende Analyse der kantonalen Massnahmen im Bereich der inklusiven Bildung würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Exemplarisch wird jedoch auf einige positive sowie negative Entwicklungen eingegangen.

Als positives Beispiel ist sicherlich der Kanton Luzern zu nennen, welcher einen bedeutenden Systemwechsel vollzogen hat. Der Regierungsrat beschloss 2011 die Aufhebung von Kleinklassen und ordnete die integrative Förderung der betroffenen Kinder in der Regelschule an. Die benötigten Ressourcen für die integrative Förderung fliessen seither direkt an die Schule.

Die Kantone Basel-Stadt und Bern fördern ebenfalls ein integratives Schulsystem. Ein Wahlrecht für Menschen mit Behinderungen auf Teilnahme am Regelunterricht und angemessene Unterstützung der Schulen fehlen jedoch weiterhin. Im Kanton Basel-Land wird selbst über kleine Schritte heftig diskutiert und somit erstaunt es kaum, dass Basel-Land schweizweit die höchste Quote an separiert beschulten Kindern aufweist (ca. 5%).

Dieser unterschiedliche Entwicklungsstand in den Kantonen ist wohl die direkte Folge eines nur spärlich geführten öffentlichen und politischen Diskurses. So fehlt es beispielsweise an einer neuen gesetzlichen Zielvorgabe, welche die Verpflichtungen der BRK national und kantonal umsetzt. Ebenfalls gibt es keine verbindlichen Aktionspläne auf nationaler oder kantonaler Ebene, welche ein auf Inklusion ausgerichtetes Bildungssystem fördern. Dieser Umstand vermag kaum zu überraschen, denn der Bundesrat vertrat schon in seiner Botschaft zur Genehmigung der BRK die Auffassung, «dass das Übereinkommen im Bereich der obligatorischen Schule von den Kantonen nicht mehr verlangt als die erwähnten Garantien der Bundesverfassung [Art. 8, 19 und 62 BV] und als Art. 20 BehiG […]» (S. 702 der Botschaft). Diese Ansicht verkennt allerdings die Tragweite der Verpflichtungen aus Art. 24 BRK, welche, gemäss dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen über die bundesrechtlichen Garantien hinausgehen.

Die erfolgreiche Umsetzung eines inklusiven Schulsystems in allen Kantonen wird auch massgebend davon abhängen, wie viele Ressourcen für die strukturellen und personellen Bedürfnisse der Regelschulen zur Verfügung gestellt werden (beispielsweise für die Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte, Team-Teaching, etc.). Dass geeignete Unterstützungsmassnahmen und die notwendige Infrastruktur auch in der Regelschule angeboten werden können, zeigt das Beispiel Schweden. Dort dreht sich die Diskussion weniger um das Ob, sondern um das Wie.