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Wiederholte Menschenrechtsverletzungen im Gefängnis Champ-Dollon

15.09.2020

Die Haftbedingungen im Genfer Gefängnis Champ-Dollon verstossen gegen das Folterverbot der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Dies bestätigt das jüngste in einer Reihe von Bundesgerichtsurteilen, welche menschenrechtswidrige Zustände im Untersuchungsgefängnis feststellen.

Seine Haftbedingungen im Gefängnis Champ-Dollon seien rechtswidrig gewesen, brachte der Beschwerdeführer am Schweizerischen Bundesgericht vor. Er wurde vom 22. Juni 2014 bis 17. Mai 2016 während insgesamt 234 Tagen im Genfer Gefängnis untergebracht. Im Vorfeld seiner Beschwerde ans Bundesgericht stellte die kantonale Vorinstanz fest, dass seine Inhaftierung während 89 Tagen nicht den gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen entsprochen hatte. Die Bundesrichter*innen gingen in ihrem Urteil vom 18. Mai 2020 einen Schritt weiter: Die Unterbringung habe während der gesamten Haftdauer das Folterverbot der Bundesverfassung (Art. 10 Abs. 3 BV) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 3 EMRK) verletzt.

Bereits am 22. Februar 2019 entschied das Bundesgericht im konkreten Fall, dass die Genfer Behörden das Recht des Beschwerdeführers auf eine rasche und unabhängige Untersuchung seiner Haftumstände verletzt hatten.

Engste Platzverhältnisse in Gemeinschaftszellen

Der Beschwerdeführer lebte ab dem 23. Juni 2014 bis zum 22. Februar 2015 in einer Zelle mit zwei Mithäftlingen, wobei jedem einzelnen zwischen 3.4m² und 3.7m² individuelle Bodenfläche zur Verfügung stand. Einzig am 16. und am 26. Juli 2014 verfügten die Inhaftierten über mehr als 5m². Während des gesamten Zeitraums konnte der Beschwerdeführer nur während einer Stunde pro Tag an die frische Luft, eine Stunde pro Woche zum Sport in eine grosse Halle sowie auf Wunsch während zwei bis drei Stunden pro Woche zur Bewegung in eine kleinere Halle.

In der restlichen Zeit lebten die drei Häftlinge auf dem ihnen zugewiesenen engen Raum zusammen. Erst nach drei Monaten waren die Mitinsassen des Beschwerdeführers während einigen Stunden pro Tag abwesend, um Beschäftigungen innerhalb des Gefängnisses nachzugehen. Der Beschwerdeführer selbst konnte lediglich zwischen dem 12. und dem 20. Januar 2015 eine Stunde pro Tag einer Arbeit nachgehen.

Der Platzfaktor als zentrales Element für die Angemessenheit von Haftbedingungen

Das Bundesgericht rekapituliert in seinem Urteil die Voraussetzungen, welche der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter im Bereich des Haftvollzuges vorschreibt. Konkret zitiert das Gericht die vom Ausschuss im Jahr 2015 veröffentlichten Standards zum persönlichen Lebensraum von Inhaftierten, wonach in Gemeinschaftszellen lebenden Häftlingen mindestens 4m² pro Person zur Verfügung stehen sollten – zuzüglich der sanitären Anlagen, welche vollständig vom «Wohnbereich» abgetrennt sein müssten. Weiter stützt sich das Bundesgericht auf die vom Ministerkomitee des Europarates verabschiedeten Europäischen Strafvollzugsgrundsätze (Rec.(2006)2), welche die Achtung der Menschenwürde und der Privatsphäre von Inhaftierten als zentrale Grundsätze des Vollzugs definieren.

Zur Beurteilung der Beschwerde erinnert das Bundesgericht weiter an seine früheren Urteile zu den Haftbedingungen in Champ-Dollon. Dementsprechend sei eine Einzelfläche von weniger als 4.2m² pro Person als unzumutbar einzuordnen. Inwiefern auch das Verbot unmenschlicher Behandlung verletzt sei, hinge jedoch auch von der Dauer ab, welche Betroffene unter diesen Bedingungen leben müssten. Spätestens ab einem Zeitraum von drei Monaten seien derartige Umstände rechtswidrig.

Schliesslich berücksichtigt das Bundesgericht das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Sachen Mursic gegen Kroatien. Gemäss der Einschätzung aus Strassburg ist der persönliche Raum ab einer Einzelfläche von weniger als 3m² pro Person derart schwerwiegend eingeschränkt, dass von einem Verstoss gegen das Folterverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgegangen werden muss. Auch bei einem persönlichen Raum von 3 bis 4m² bleibt der Platzfaktor ein zentrales Element bei der Beurteilung der Angemessenheit von Haftbedingungen: Eine Verletzung des Folterverbots sei in diesen Fällen dann zu bejahen, wenn mit dem Platzmangel andere problematische Haftbedingungen einhergehen. Etwa schlechte Belüftung, zu hohe oder zu tiefe Temperaturen, mangelnde Privatsphäre in den Toiletten oder allgemein schlechte hygienische Bedingungen.

Kumulation unhaltbarer Umstände

In seinem Urteil kritisiert das Bundesgericht insbesondere die zweistufige Argumentation der Vorinstanz: Diese hatte im konkreten Fall zwischen Untersuchungshaft (22. Juni bis 24. November 2014) und ordentlicher Haft (ab dem 24. November 2014) unterschieden und letztere als rechtmässig befunden. Dem Beschwerdeführer folgend qualifizierte das Bundesgericht diese Unterscheidung als künstlich, zumal sich an den Haftbedingungen auch nach dem 24. November 2014 nichts geändert hatte. Bei der Überprüfung von Haftbedingungen sei eine Gesamtbewertung aller Umstände während der gesamten Haftdauer vorzunehmen; und zwar auch dann, wenn der Haftgrund sich verändere.

Der Beschwerdeführer sei während fast 8 Monaten für die Dauer von 22 bis 23 Stunden pro Tag in einer Zelle eingeschlossen gewesen, in welcher er auf weniger als 3.7m² individueller Bodenfläche leben musste. Dabei habe er abgesehen von einem täglichen Spaziergang sowie drei bis vier Stunden Sport pro Woche keinen weiteren Aktivitäten ausserhalb der Zelle nachgehen können. Damit träten kumulativ zur geringen Wohnfläche andere schlechten Haftbedingungen hinzu. Aus diesen Gründen kommt das Bundesgericht in seinem Urteil zum Schluss, dass das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK und Art. 10 Abs. 3 BV) sowie die Menschenwürde (Art. 7 BV) verletzt worden sind.

Bundesgerichtliche Rechtsprechung zeigt bis heute wenig Wirkung

Das jüngste Urteil des Bundesgerichtes reiht sich in die mittlerweile lange Liste von Beanstandungen der Haftbedingungen im Gefängnis Champ-Dollon ein. Seit Jahren wird von zivilgesellschaftlicher Seite immer wieder auf die problematische Überbelegung in der Haftanstalt hingewiesen, und ab 2014 stellte das Bundesgericht wiederholt Verletzungen des Folterverbots fest. Nach Angaben der Behörden im Kanton Genf habe sich die Situation seit damals verbessert – so lebten weniger Häftlinge in der Anstalt und es stünden mehr Betten zur Verfügung.

Angesichts jüngster Entwicklungen sind an einer Besserung der Lage aber zumindest Zweifel angebracht: Im Juni 2019 lag die Belegung in Champ-Dollon durchschnittlich noch immer bei 160%, was im Vergleich zu 2016 lediglich einer marginalen Verbesserung gleichkommt. Auch im März 2020 wurde von 650 Inhaftierten berichtet, obwohl die Anstalt Champ-Dollon für lediglich 400 Gefangene Platz bietet. Dies ist nicht zuletzt im Hinblick auf die seit Anfang 2020 anhaltende Corona-Pandemie besonders problematisch.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich das Bundesgericht erneut mit der Lage in der Genfer Haftanstalt auseinandersetzen wird. Der politische Wille für eine Verbesserung scheint weiterhin gering. Es ist an der Zeit, dass die Genfer Behörden ihre Haftbedingungen den verfassungsmässigen Mindeststandards anpassen und die menschenrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz mittragen.