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Verdacht auf Menschenhandel im Asylverfahren – Rüge des Bundesverwaltungsgerichts

31.08.2016

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) muss von sich aus tätig werden, wenn in einem Asylverfahren der Verdacht auf Menschenhandel im Raum steht. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht am 18. Juli 2016  in einem sehr ausführlichen und wegweisenden Entscheid festgehalten.

Die grausame Praxis nigerianischer Menschenhändler

Anlass für das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts war der Fall einer Nigerianerin, die schon im Jahr 2003 in die Schweiz eingereist war und Asyl beantragt hatte. Narben an ihrem Körper legen die Vermutung nahe, dass sie allenfalls dem «Juju»-Ritual, einer typischen Praxis nigerianischer Menschenhändler, unterzogen worden war. Den betroffenen Frauen werden in einer Art von Voodoo-Kult von einem «Juju-Priester» Stich- und Brandwunden zugefügt; anschliessend werden sie mit Substanzen behandelt, die eine Heilung der Wunden beeinträchtigt, so dass sie auf Dauer entstellt sind. Aus Angst vor Sanktionen berichten die Opfer meistens weder der Polizei noch den Asylbehörden von ihren Qualen oder den genauen Umständen ihrer Flucht nach Europa. Auch die Beschwerdeführerin hatte erst viel später, nachdem ihr Asylgesuch abgewiesen worden war, im Rahmen eines Wiedererwägungsgesuchs im Jahr 2013 Hinweise darauf geliefert, dass sie Opfer von Menschenhandel gewesen sein könnte.

Menschenhandel verletzt elementare Menschenrechte

Artikel 4 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verbietet Sklaverei und Zwangsarbeit. Dieses Verbot verpflichtet die Mitgliedsstaaten der Konvention nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu einem umfassenden Schutz vor Menschenhandel. Nach den deutlichen Worten des Gerichtes ist diese moderne Form der Sklaverei weder mit einer demokratischen Gesellschaft noch mit den Werten zu vereinbaren, für die seit jeher die Menschenrechtskonvention steht.

Das Bundesverwaltungsgericht befasste sich ausführlich mit der Frage, wie diese Verpflichtung wahrzunehmen ist. Dabei verweist es auf das Europarats-Übereinkommen zur Bekämpfung von Menschenhandel und die Empfehlungen des GRETA (Group of Experts on Action against Trafficking in Human Beings) im Evaluationsbericht an die Schweiz. In diesem wird die Schweiz angehalten, ihre positiven Verpflichtungen zur Bekämpfung von Menschenhandel aktiv wahrzunehmen und umzusetzen. Dazu gehört in erster Linie, alle Opfer von Menschenhandel korrekt zu identifizieren.

Schweigen ist Teil des Systems

Die Opfer der nigerianischen Menschenhändler sind meistens sehr jung, schlecht gebildet und haben schon viele Grausamkeiten gesehen und selbst erlebt. Es ist daher leicht, sie mit Drohungen weiterer Gewalt gefügig zu machen und dazu zu bringen, sich den Behörden nicht zu offenbaren. Und die Opfer haben Schulden - für ihre Peiniger müssen sie die Kosten ihres Transportes nach Europa, für gefälschte Papiere und Unterkunft sowie Verpflegung durch Prostitution und Drogenschmuggel abarbeiten. So erging es auch der Beschwerdeführerin: Sie war wegen Drogendelikten in der Schweiz verurteilt worden, hatte wohl aber auch im Strafverfahren weiter geschwiegen. Dass Betroffene keine, unwahre oder widersprüchliche Angaben machen und die Verletzungen an ihren Körpern nicht erklären können, darf nicht Anlass zum Wegschauen sein, sondern muss die Asylbehörden alarmieren und veranlassen, den Fall genauestens zu überprüfen, wie das Bundesverwaltungsgericht nun klar stellt.

Behörden müssen ermitteln

Genau das haben, folgt man dem Urteil, die Migrationsbehörden aber nicht getan. Das Bundesverwaltungsgericht wirft dem Staatssekretariat für Migration vor, seine Pflicht zur umfassenden Ermittlung des Sachverhalts verletzt zu haben. Das Verwaltungsrecht hat den Untersuchungsgrundsatz zu beachten; d.h. bei konkreten Anhaltspunkten für Menschenhandel wie «Juju»-Narben muss das SEM tätig werden. Mit den im Wiedererwägungsgesuch der Beschwerdeführerin neu eingebrachten Hinweisen befassten sich die Behörden jedoch nicht – trotz eines mittlerweile beachtlichen Erkenntnisstandes zur Praxis des nigerianischen Menschenhandels. Das Bundesverwaltungsgericht hat nun in akribischer Recherchearbeit den Wissensstand bei Schweizer und ausländischen Institutionen erhoben. Es hat damit klar dargelegt, was das SEM hätte wissen können, wenn es gewollt hätte.

Keine unmittelbaren Konsequenzen

Dass die Beschwerde erfolgreich war, bedeutet, dass das SEM eine neue Verfügung erlassen und diese auf umfassende eigene Erhebungen und die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts stützen muss. Damit ist jedoch noch nicht entschieden, ob die Beschwerdeführerin auf Dauer in der Schweiz bleiben kann. Doch die Auffassung ist naheliegend, dass nach inzwischen 13 Jahren Asylverfahren und vom Bundesverwaltungsgericht deutlich herausgearbeiteten Hinweisen auf Menschenhandel der menschenrechtliche Schutz für die Beschwerdeführerin nur dadurch gewahrt werden kann, dass dem Wiedererwägungsgesuch stattgegeben wird. So hat bis zum jetzigen Zeitpunkt zwar der Rechtsstaat gesiegt, aber die Qual der Ungewissheit über ihr Schicksal geht für die Beschwerdeführerin zunächst weiter.

Kommentar von humanrights.ch

Der Frauen- und Mädchenhandel zur Ausbeutung durch Prostitution stellt eine der schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen dar. Bei den Massnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels hat deshalb der Schutz der Opfer oberste Priorität. Die Schweiz hat sich mit der Ratifizierung der Europäischen Konvention gegen Menschenhandel 2011 denn auch verpflichtet, diesen Schutz weit möglichst zu garantieren. Dabei sind Massnahmen zur Identifizierung der Opfer zentral (siehe Art. 10 Europäische Menschenhandelskonvention), da die Opfer, wie der Fall zeigt, häufig nicht in der Lage sind, über das Erlebte zu sprechen und schon gar nicht, das Erlebte rechtlich einzuordnen.

Verschiedene internationale Organisationen haben entsprechende Guidelines zur Identifizierungsproblematik verfasst und auch die die Koordinationsstelle gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel (KSMM) hat bereits 2005 eine Checkliste zur Identifizierung der Opfer erarbeitet, auf die in den Weisungen des SEM hingewiesen wird.

Sowohl die KSMM als auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe haben in den vergangenen Jahren Weiterbildungen zum Thema «Witchcraft, Juju & Human Trafficking» organisiert. Doch der Fall zeigt, dass im Bereich der Sensibilisierung und Aufklärung der Behörden weiterhin viel Aus- und Weiterbildungsbedarf besteht.

Im konkreten Fall lagen verschiedene Anzeichen vor, denen gemäss dem im Asylverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatz hätte nachgegangen werden müssen. Das Urteil verpflichtet die Asylbehörden nun, Massnahmen zu ergreifen, dass entsprechende Untersuchungen auch tatsächlich an die Hand genommen werden.

Dokumentation

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