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Hassreden: Die Grenzen der Meinungsäusserungsfreiheit

06.02.2017

In den Kommentarspalten der Internetmedien und in den sozialen Netzwerken wird die Wut auf alles und jeden ungebremst und unbedacht in Worte gefasst. Die Meinungsäusserungsfreiheit schützt diese Art von Äusserungen. Problematisch wird es allerdings, wenn die Äusserungen zur Diskriminierung, Feindseligkeit und Gewalt gegen Personen und Gruppen aufgrund rassistischer Zuschreibungen, Religion, Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität, einer Behinderung oder Krankheit und so fort aufrufen. Die internationalen Menschenrechtsorgane beschäftigen sich seit einiger Zeit mit solchen Hassreden («hate speech») und sie versuchen, die äusserst heikle Abgrenzung zwischen der zu schützenden und zu verteidigenden Meinungsäusserungsfreiheit und der zu bekämpfenden diskriminierenden und die Würde des Menschen verletzenden Hassrede zu fassen. Auch wollen sie die Pflicht der Staaten, Hassreden zu bekämpfen, präzisieren. In der Schweiz besteht nur gegenüber einer rassistisch motivierten Hassrede zu "Rasse"*, Ethnie oder Religion eine strafrechtliche Untersuchungspflicht.

Hate speech und Hate crime

Das Ausmass von «hate speech» ist gut dokumentiert und viele internationale Gremien (UNO, Europarat, OSZE) beschäftigen sich mit dem Phänomen und seinen Auswirkungen auf die betroffenen gesellschaftlichen Gruppen sowie die Gesellschaft als Ganzes und deren Zusammenhalt. Die OSZE hat zum Beispiel verschiedentlich festgehalten, dass «hate speech» eine grosse Gefahr für die Sicherheit und den Zusammenhalt der europäischen Staaten darstellt. Bis heute hat sich die internationale Gemeinschaft allerdings nicht auf eine einheitliche rechtliche Definition von «hate speech» einigen können. Einige Länder, vor allem die USA, setzen den Schutz der Meinungsäusserungsfreiheit über alles.

Das Ministerkomitee des Europarates hat bereits 1997 eine Empfehlung R (97) 20 über die Hassrede verabschiedet. Darin findet sich eine Definition von «hate speech», auf die auch heute noch in Zusammenhang mit dem Thema stets Bezug genommen wird. Danach fällt darunter:

«Jegliche Ausdrucksformen, welche «Rassenhass»*, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder andere Formen von Hass, die auf Intoleranz gründen, propagieren, dazu anstiften, sie fördern oder rechtfertigen, einschliesslich der Intoleranz, die sich in Form eines aggressiven Nationalismus und Ethnozentrismus, einer Diskriminierung und Feindseligkeit gegenüber Minderheiten, Einwanderern und der Einwanderung entstammenden Personen ausdrückt».

Zwar standen und stehen rassistisch (gegen Juden, Muslime, Romas, Menschen dunkler Hautfarbe etc.) und fremdenfeindlich motivierten Hassreden im Vordergrund der Bemühungen der internationalen Gemeinschaft und insbesondere der OSZE. Der Hinweis auf «andere Formen von Hass, die auf Intoleranz gründen» macht aber deutlich, dass auch weitere, nicht explizit genannte Motive mitgemeint sind und insbesondere auch Hassreden aufgrund des Geschlechts, der Geschlechtsidentität und der sexuelle Orientierung, einer physischen oder psychischen Behinderung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse oder sozialen Gruppe mitumfasst sind (siehe z.B. OSCE, Freedom of Expression and Hate Speech, S. 27 f.)

Aus zwei Gründen sind solche Hassreden zu bekämpfen: Zum einen versetzen Reden, die zu Hass auf bestimmte Personengruppen aufrufen, die Betroffenen in Angst und Schrecken und schränken sie damit in der Ausübung der ihnen zustehenden Grund- und Menschenrechte ein. Sie stellen zum anderen aber auch den Nährboden für physische Übergriffe und Einschüchterungsaktionen gegen Angehörige der jeweiligen Gruppen dar. Durch stereotypisierende Verunglimpfungen wird die «Entmenschlichung» vorbereitet und die Barriere zur Begehung von strafbaren Handlungen sinkt.

Strafrechtlich sanktionierte Delikte, welche durch Vorurteile gegenüber spezifischen Gruppen motiviert sind, werden «hate-crimes» (Hassverbrechen) genannt. Das Konzpt, das ursprünglich aus der USA stammt, hat vor allem die OSZE aufgegriffen. Sie ermittelt jährlich bei den Mitgliedstaaten Zahlen zum Ausmass der Hassverbrechen. Von solchen «hate crimes» können sowohl Menschen als auch Orte, welche mit einer Gruppe in Verbindung gebracht werden (wie zum Beispiel Menschenrechtsverteidigerinnen und –verteidiger, Gemeinschaftszentren oder religiöse Stätten) betroffen sein. 

    Legitime Einschränkungen der Meinungsäusserungsfreiheit

    Die Meinungsäusserungsfreiheit stellt eines der zentralen Menschenrechte dar. Sie gilt für die Ausübung und den Schutz aller Menschenrechte als auch für das Funktionieren eines demokratischen Rechtsstaates als unabdingbar. Verschiedene internationale Menschenrechtsverträge schützen die Meinungsäusserungsfreiheit (insbesondere Art. 19 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, Art. 19 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Pakt II) und Art. 10 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und verschiedene Gremien auf universeller und regionaler Ebene kämpfen gegen Einschränkungen der freien Meinungsäusserung.

    Die Meinungsäusserungsfreiheit gilt allerdings nicht absolut. Pakt II hält fest, dass deren Ausübung mit besonderen Pflichten und einer besonderen Verantwortung verbunden ist (Art. 19 Abs. 3 Pakt II). Sie kann zur Sicherung der Achtung der Rechte oder des Rufs anderer oder für den Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (ordre public), der Volksgesundheit oder der öffentlichen Sittlichkeit eingeschränkt werden. Noch eingehender umschreibt die EMRK die Einschränkungsvoraussetzungen: gemäss Art. 10 Abs. 2 EMRK kann sie «Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung».

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zieht in seiner Praxis zur Beurteilung der Grenzen der Meinungsäusserungsfreiheit als weiteres Kriterium die Bestimmung in Art. 17 EMRK bei. Danach ist jegliche Handlung zu verbieten, «die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist». Auf die Meinungsäusserungsfreiheit darf sich damit niemand berufen, der dazu aufruft, die Grund- und Menschenrechte bestimmter Gruppen von Menschen zu beschneiden. Eine analoge Bestimmung findet sich in Art. 5 Pakt II.

    Pakt II verbietet darüber hinaus in Art. 20 Kriegspropaganda (Abs. 1) und «jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird» (Abs. 2). Und schliesslich verlangt die Anti-Rassismuskonvention von den Staaten positive Massnahmen um «jedes Aufreizen zur «Rassendiskriminierung»* und alle rassisch diskriminierenden Handlungen auszumerzen» (Art. 4 Anti-Rassismuskonvention).

    Mit Verweis auf Art. 17 EMRK erklärte der EGMR zum Beispiel die Klage des französischen Komiker Dieudonné als unzulässig (M’Bala M’Bala gegen Frankreich, Entscheid vom 20. Okt. 2015). Dieser gelangte an den EGMR, weil er sich in seiner Meinungsäusserungsfreiheit verletzt sah. Er war verurteilt worden wegen öffentlicher Beleidigung von Personen wegen deren Herkunft, rassistischen Zuschreibungen oder Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gemeinschaft, Nation, oder Religion. Im konkreten Fall ging es um die Verhöhnung von Menschen jüdischer Herkunft oder Glauben. Anlässlich eines Auftritts vergab er einen « prix de l’infréquentabilité et de l’insolence » (in etwa: Preis für Geächtetsein und Respektlosigkeit) an einen Holocaustleugner, der diesem von einem mit einem gestreiften Pyjama mit einem Judenstern an der Brust gekleideten Mitarbeiter Dieudonnés überreichte wurde. Der Abend hatte damit gemäss EGMR nicht mehr den Charakter einer satyrisch, provokativen Vorstellung, sondern stellte eine Demonstration von Hass, Antisemitismus und Unterstützung der Holocaust-Leugner dar. Der EGMR entschied, dass sich Dieudonné damit nicht auf die Meinungsäusserungsfreiheit berufen könne, da er diese unter Missachtung der Bestimmungen und des Geistes der EMRK ausgeübt habe.

    Einen Überblick über die Praxis des EGMR, in welchen Fällen er eine Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit als legitim erachtet, findet sich in der Studie, welche der Europarat im September 2016 unter dem Titel «Meinungsfreiheit und Diffamierung: Wo liegt die Grenze?» (aus dem Englischen: Freedom of expression and defamation: where do we draw the line?) veröffentlicht hat.

    Elemente der Abgrenzung zwischen freier Meinungsäusserung und Formen von Missbrauch

    Die Abgrenzung zwischen freier Meinungsäusserung und der Verbreitung zu unterbindender und zu bestrafender Anstiftung zu Diskriminierung, Hass und Drohung gegen Minderheiten erfordert eine sorgfältige Prüfung. Die Meinungsäusserungsfreiheit deckt durchaus auch unanständige und sogar beleidigende Reden ab, die zwar die Ehre der Betroffenen verletzen, aber (noch) nicht unter Hate speech fallen. Umgekehrt können auch Äusserungen Hassreden darstellen, die «objektiv»  und «wissenschaftlich» daherkommen und denen keine expliziten (Hass-)Emotionen zu entnehmen sind. Gemäss Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung (CERD) sind zur Prüfung, ob eine Äusserung eine verpönte Hassrede darstellt,  folgende Punkte einzubeziehen:

    • Der Inhalte und die Form der Rede
    • Das bestehende soziale, wirtschaftliche und politische Klima in dem die Rede erfolgte, sowie bestehende Diskriminierungsmuster gegen die betreffende Minderheit (z.B. betreffend Asylsuchende, Ausländergruppen, sexuelle Minderheiten etc.)
    • Die Position des Sprechenden in der Gesellschaft bzw. im entsprechenden Medium (handelt es sich z.B. um Politiker/innen, um Meinungsführer/innen etc.).
    • Die Reichsweite der Rede (Internet oder Mainstream-Medien etc.)

    Das Ziel der Rede ist als weiterer Punkt zu berücksichtigen. Hier weist der Ausschuss darauf hin, dass z.B. Reden zur Verteidigung der Menschenrechte oder spezieller Gruppen nicht kriminalisiert werden sollen.

    Massnahmen zur Bekämpfung von Hassreden

    Die Massnahmen zur Bekämpfung von Hassreden sollten sich nicht auf strafrechtliche Massnahmen beschränken. Die Staaten haben die Pflicht, positive Massnahmen im Bereich Prävention und Sensibilisierung zu ergreifen. Sie sollen öffentliche Bildungs- und Informationskampagnen zur Problematik durchführen und insbesondere die Selbstregulierung der Medien anregen und unterstützen. Im Weiteren haben sie Politiker/innen, Meinungsträger/innen sowie Institutionen und Organisationen für die Bekämpfung von Hassreden in die Pfllicht zu nehmen. Diese Massnahmen sollten Bestandteil allgemeiner Massnahmen zur Bekämpfung jeder Form von Diskriminierung darstellen. In diesem Sinne hat z.B. der Europarat eine Kampagne durchgeführt, die die Jugendlichen gegen «Hate speech» im Internet sensibilisieren will («No hate speech Movement»).

    Situation in der Schweiz: Keine allgemeines Verbot von Hassreden

    Die Schweiz kennt keine allgemein gültige rechtliche Definition von «Hate speech». Per Gesetz verboten sind lediglich rassistisch motivierte Hassreden. Diese fallen unter die Anti-Rassismusstrafnorm in Art. 261bis Strafgesetzbuch (StGB) und sind von Amtes wegen zu ahnden. Geschützt ist sodann gemäss Art. 261 StGB die Glaubensfreiheit vor Störung und Verunglimpfung: Wer öffentlich und in gemeiner Weise die Überzeugung anderer in Glaubenssachen, insbesondere den Glauben an Gott, beschimpft oder verspottet oder Gegenstände religiöser Verehrung verunehrt, oder wer eine verfassungsmässig gewährleistete Kultushandlung böswillig verhindert, stört oder öffentlich verspottet, wird mit Strafe bedroht.

    Keine entsprechenden Verbote bestehen bezüglich der diskriminierenden Herabsetzung von Frauen, von Homosexuellen und Transmenschen, von Menschen mit Behinderungen oder auch sozialen Minderheiten (Sozialhilfebezüger/innen, Asylsuchende etc.). Vorstösse im eidgenössischen Parlament, welche die Strafbestimmung von Art. 261bis StGB zumindest auf homo- und transphobe Hassreden oder die Verunglimpfung von Menschen mit Behinderung ausweiten wollten, wurden bis jetzt alle abgelehnt bzw. sind noch hängig. Dabei wurde jeweils von Bundesrat und Parlament argumentiert, dass das geltende Recht bereits Bestimmungen zum Schutze vor Hassreden kenne. Verwiesen wurde auf die Bestimmungen im Strafrecht betreffend strafbare Handlungen gegen die Ehre (Ehrverletzung, Verleumdung, üble Nachrede in Art. 173 ff. StGB) oder deren Entsprechung im Zivilrecht (Persönlichkeitsschutz von Art. 28 ff. ZGB).

    Nicht bewusst - und soweit ersichtlich jedenfalls nicht diskutiert - scheint dem Gesetzgeber das öffentliche Interesse an einer Bekämpfung von «hate speech» gegen jegliche verletzliche Minderheiten zu sein. Die zitierten straf- und zivilrechtlichen Bestimmungen gegen die Ehrverletzung erlauben es nämlich lediglich den Direktbetroffenen sich zu wehren, indem sie einen Strafantrag deponieren oder eine zivilrechtliche Klage erheben. Der Staat kann in solchen Fällen von sich aus nicht tätig werden und auch zivilgesellschaftliche Organisationen haben kaum die Möglichkeit, rechtliche Massnahmen zu ergreifen.

    Wenn sich die diskriminierende Herabsetzung durch Hassreden nicht gegen bestimmte Individuen sondern gegen Minderheitengruppen als solche richtet, so besteht in der Schweiz keine effektive rechtliche Handhabe, wenn es sich nicht um eine «rassische», ethnische oder religiöse Gruppe handelt. Insbesondere fehlt eine strafrechtliche Bestimmung gegenüber gruppenbezogenen sexistischen oder homo- und transphoben Hassreden oder etwa auch gegenüber Hassreden gegen Menschen mit physischen oder psychischen Behinderungen oder weiteren sozialen Minderheiten. Bemerkenswert ist, dass sexistisch motivierte Hassreden (gegen Feministinnen, geschiedene Frauen, Sexarbeiterinnen etc.) und deren Zusammenhang mit Gewalt gegen Frauen in der Schweiz bislang offenbar kein Thema ist.

    Ein allgemeines Verbot sowie weitere positive Massnahmen zur Bekämpfung von Hassreden haben sowohl der Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung wie kürzlich auch die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) von der Schweiz gefordert. ECRI zum Beispiel empfiehlt den Schweizer Behörden, «in enger Zusammenarbeit mit Medienvertretern und ohne Einschränkung der Pressefreiheit einen Aktionsplan zu erstellen, um die bestehenden Routinen und Reflexe aufzubrechen, die dazu führen können, dass die Medienberichterstattung in der Schweiz eine stigmatisierende Wirkung auf schutzbedürftige Gruppen hat, insbesondere auf Roma und dunkelhäutige Menschen». Auch verlangt ECRI, dass einer oder mehreren Polizeieinheiten, vorzugsweise der Nationalen Koordinierungseinheit zur Bekämpfung der Internetkriminalität (kobi), die Verantwortung für eine aktive Bekämpfung von Hassrede im Internet übertragen und ihr/ihnen angemessene technische und personelle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Wie auf der Website der Kobi ersichtlich wird, ist diese zur Zeit aufgrund von Art. 261bis StGB nur für die Bekämpfung von rassiistischer Diskriminierung zuständig.

    Parlamentarische Vorstösse:

     

    *Menschenrassen existieren nicht. Das Konzept von angeblichen, naturgegebenen Menschenrassen wurde sozial konstruiert und ist Kern der rassistischen Ideologie und wissenschaftlich unhaltbar. Der Begriff «Rasse» wird in Anführungszeichen geschrieben, um die soziale Konstruktion des Begriffs hervorzuheben und eine Analyse struktureller Ungleichheit und Diskriminierung zu ermöglichen.