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Evangelisches Kirchenrecht mit reformierter Prägung

27.01.2023

Das evangelische Kirchenrecht reformierter Prägung wird in der Schweiz hauptsächlich auf kantonaler Ebene fortgebildet und durchgesetzt, weil die reformierten Kirchen in erster Linie kantonal organisiert sind.  

Legitimation

Die Grundlage und Quelle des evangelischen Kirchenrechts reformierter Prägung bildet die in der Bibel festgehaltene religiöse Offenbarung. Das Kirchenrecht soll die Mitglieder der Kirche an den Willen von Jesus Christus erinnern. Er wird als Souverän der Kirche und des Kirchenrechts angesehen. Wesen und Ziel des Kirchenrechts werden also nicht juristisch, sondern theologisch bestimmt. Das Kirchenrecht wird aber als von Menschen geschaffen verstanden, weshalb es nicht unfehlbar ist und angepasst werden kann. Pfarrer*innen können zudem von der Anwendung kirchenrechtlicher Normen absehen, wenn dies ihre seelsorgerische Tätigkeit erfordert.

Rechtsgrundlagen

Die meisten evangelisch-reformierten Kirchen der Schweiz kennen auf der kantonalen Ebene zwei Grunderlasse: die Kirchenverfassung und die Kirchenordnung. Die Kirchenverfassung enthält die grundlegenden organisatorischen Bestimmungen der Kirche, wie beispielsweise die Gliederung der Kirche sowie die Zuständigkeiten der verschiedenen Organe. Bei der öffentlich-rechtlichen Anerkennung wird die Kirchenverfassung durch die jeweiligen Kantone genehmigt. In der Kirchenordnung werden demgegenüber die Bestimmungen für das mit dem Glauben verbundene innerkirchliche Leben festgehalten. Nicht in allen Kantonen gibt es beide Grunderlasse. So kennt beispielsweise die Evangelisch-reformierte Kantonalkirche des Kantons Zürich nur die Kirchenordnung, während die Evangelisch-reformierte Kirche des Kantons Basel-Stadt sowie die Reformierte Kirche des Kantons Zug nur eine Kirchenverfassung, aber keine Kirchenordnung besitzen.

Grundsätzlich bilden die Kirchenordnung und Kirchenverfassung die primären Rechtsquellen für das Kirchenrecht. Die Ausführungen dieser Regelungen werden meist in Ausführungserlassen konkretisiert, wie beispielsweise die Regelungen zu Wahlverfahren von Personen in die einzelnen kirchlichen Organe. Ausführungserlasse können von einzelnen Kirchgemeinden bestimmt werden.

Neben der kommunalen und kantonalen Ebene sind evangelisch-reformierte Kirchen auch in überkantonalen, nationalen und internationalen Netzwerken organisiert. Auch auf diesen Ebenen können Bestimmungen erarbeitet werden, welche Rechtscharakter besitzen. So kommen etwa bei Fragen zur Ausbildung von Pfarrpersonen den Rechtstexten des Evangelischen Kirche Schweiz (EKS) und der Conférence des Eglises Réformées de Suisse Romande grosse Bedeutung zu. Wo keine festgeschriebenen Rechtsnormen bestehen, kommt – solange es nicht gegen Prinzipien des Glaubens verstösst – Gewohnheitsrecht zur Anwendung.

Rechtsfortbildung und Rechtsprechung

Die einzelnen Kirchgemeinden sind in Kantonalkirchen organisiert. Die Kantonalkirchen bestehen – ähnlich den staatlichen Strukturen – aus dem gesetzgebenden Organ der Synode, dem ausführenden Synodal- oder Kirchenrat und der richterlichen Rekurskommission oder dem Rekursgericht.

Die Entscheide zur Rechtsfortbildung werden demokratisch von der Synode getroffen. Diese Entscheide werden nicht als unfehlbar betrachtet und können auch wieder geändert werden. Der Synodalrat setzt die Beschlüsse der Synode um und erlässt, wo das Kirchengesetz es zulässt, eigene Regeln. Somit bestehen kantonal unterschiedliche kirchenrechtliche Gesetzgebungen. Diese werden auf Gemeindeebene durch demokratische Abstimmungen – meist an einer Gemeindeversammlung – zu Ausführungsbeschlüssen präzisiert.

Die Kirchengerichte der reformierten Landeskirchen bestehen in Form von landeskirchlichen Rekurskommissionen (auch Rekursgerichte oder Beschwerdekommissionen). Sie bilden die kircheninternen Beschwerdeinstanzen. Nicht alle evangelisch-reformierten Kantonalkirchen haben eine Rekurskommission. Je nach Bestimmungen der kantonalen Verwaltungsrechtspflege kann auch ein kantonales Verwaltungsgericht bei Beschwerden entscheiden (Zum Beispiel § 40 Organisationsgesetz des Kantons Luzern). Kirchliche Rekurskommissionen gelten als letzte Instanzen vor dem Bundesgericht, sofern sie kantonal letztinstanzliche Entscheide treffen. Aus diesem Grund müssen sie besonderen Verfahrensanforderungen entsprechen (Art. 29a BV, Art. 110 ff. BGG). Die Mitglieder der Rekurskommissionen bestehen meistens aus Jurist*innen und Pfarrer*innen, welche wegen der Gewaltenteilung weder in der Synode noch im Synodalrat vertreten sein dürfen.

Verhältnis zum staatlichen Recht

Die evangelisch-reformierte Kirche der Schweiz kann ihre Rechtsetzung über die Kirchenverfassung dem kantonalen Staatsrecht anpassen. Aufgrund der öffentlich-rechtlichen Anerkennung ist die evangelisch-reformierte Kirche – in allen ausser zwei Kantonen – nach öffentlichem Recht organisiert. In den Kantonen Genf und Neuenburg ist das Kirchenrecht Privatrecht, da die evangelisch-reformierte Kirche dort als zivilgesellschaftlicher Verein organisiert ist.

Verhältnis zu den Menschenrechten

In der theologischen Literatur wird das Verhältnis zwischen der reformierten Tradition und den Menschenrechten in vielen Texten verarbeitet. Auch in verschiedenen Kirchenverfassungen und -ordnungen lassen sich Verweise finden, nach denen sich evangelisch-reformierte Kirchen für den Schutz der Menschenrechte (auch wenn sie nicht explizit genannt werden) einsetzen wollen. So steht beispielsweise in der Kirchenverfassung des Kantons Bern, dass die evangelisch-reformierte Kirche des Kantons Bern «bezeugt, dass das Wort Gottes für alle Bereiche des öffentlichen Lebens, wie Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur gilt. Sie bekämpft daher alles Unrecht sowie jede leibliche und geistige Not und ihre Ursachen» (Art. 2 Abs. 4). Ein weiteres Beispiel ist die Zürcher Kirchenordnung, in der steht: «Die Landeskirche nimmt das prophetische Wächteramt wahr. In der Ausrichtung aller Lebensbereiche am Evangelium tritt sie ein für die Würde des Menschen, die Ehrfurcht vor dem Leben und die Bewahrung der Schöpfung» (Art. 4 Abs. 2).

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