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M.K.A.H. gegen die Schweiz

13.10.2021

Mitteilung Nr. 95/2019, Entscheid vom 22. September 2021

Gemäss dem UNO-Ausschuss für Kinderrechte hat die Schweiz mit dem Rückführungsentscheid für ein staatenloses Flüchtlingskind nach Bulgarien gegen zehn verschiedene Bestimmungen der UNO-Kinderrechtskonvention (KRK) verstossen.

Die Beschwerdeführerin und Mutter des betroffenen Kindes gebar ihren Sohn in einem von den palästinensischen Behörden verwalteten Flüchtlingslager in Damaskus. Nachdem die Familie weiter in die Stadt Yelda zog, war der Sohn den brutalen Auswirkungen des Bürgerkrieges ausgesetzt: Er erlebte die Belagerung durch den Islamischen Staat (IS) und die Kämpfe zwischen der syrischen Armee und den aufständischen Gruppen.

Aufgrund der prekären Situation vor Ort verliess die Mutter im Juli 2017 Syrien und floh mit ihrem Kind nach Europa. Ihr beschwerlicher Weg führte sie durch Bulgarien, wo sie von der Polizei aufgegriffen und drei Tage ohne Wasser und Essen festgehalten wurde. Bei den anschliessenden Verhören war sie verbalem und physischem Missbrauch ausgesetzt. Im September 2017 wurden die Frau und ihr Kind als Asylsuchende registriert. Im April 2018 erhielten der damals 11-jährige Sohn wie auch seine Mutter in Bulgarien subsidiären Schutz. Während des rund achtmonatigen Aufenthalts in einem bulgarischen Flüchtlingslager wurden jedoch keinerlei Integrationsmassnahmen unternommen. Das Kind hatte weder Zugang zur Schule noch zu medizinischer Versorgung. Mutter und Sohn litten zudem an Hunger und der Überbelegung im Lager. Daraufhin flüchtete die Familie zu Verwandten in die Schweiz. Sowohl das Staatssekretariat für Migration (SEM) wie auch das Bundesverwaltungsgericht lehnten in der Folge ihr Asyl- und das darauffolgende Wiedererwägungsgesuch ab, weil Bulgarien ein sicherer Drittstaat und damit Rückführungen in das Land zumutbar seien. In beiden Verfahren wurde dem Sohn keine Anhörung gewährt. 

Daraufhin wandte sich die Mutter mit Unterstützung des «Centre Suisse pour la Défense des Droits des Migrants» (CSDM) im Namen ihres Sohnes mit einer Individualbeschwerde an den UNO-Kinderrechtsausschuss. Eine Rückschaffung nach Bulgarien würde unter anderem sein Kindeswohl (Art. 3 Abs. 1 KRK) gefährden und den Sohn einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung (Art. 37 KRK) aussetzen. Auch der Schutz des Familienlebens (Art. 16 KRK) sei im Falle einer Rückführung nicht gewährleistet, da dies die psychosoziale Unterstützung durch seine in der Schweiz lebenden Verwandten verunmöglichen würde. Nicht zuletzt könnte er in Bulgarien seine Traumabehandlung nicht fortsetzen, womit sein Recht auf Genesung und Wiedereingliederung (Art. 39 KRK) verletzt würde. 

Der Kinderrechtsausschuss hiess die Individualeschwerde gut. Die Schweiz habe sich pauschal auf die Bewertung Bulgariens als sicheren Drittstaat gestützt, ohne die spezifischen Lebensumstände des Sohnes zu berücksichtigen. Eine genaue Prüfung der tatsächlichen Umstände wäre etwa in Bezug auf Zugang zu medizinischer und psychologischer Betreuung für das traumatisierte Kind vonnöten gewesen. Mit ihrem Entscheid hätten die Schweizer Behörden das Kindeswohl gefährdet und den Anspruch auf rechtliches Gehör des Sohnes (Art. 12 KRK) missachtet. Bei einer Ausschaffung hätte dem Kind möglicherweise eine Verletzung des Verbots unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gedroht. Der Ausschuss präzisierte zudem, dass der Begriff der Familie (Art. 16 KRK) nicht nur die Kernfamilie umfasse, sondern das gesamte Spektrum der Strukturen zuhanden der Betreuung, Erziehung und Entwicklung eines Kindes. Damit hätte die Ausschaffung des Sohnes sein Recht auf Schutz des Familienlebens tangiert. Aus diesen Gründen hält der UNO-Kinderrechtsausschuss die Schweiz dazu an, den Rückführungsentscheid und die Asylgesuche des Kindes und seiner Mutter neu zu überprüfen und den Sohn dabei ordnungsgemäss anzuhören. 

Ferner fordert das Gremium die Schweiz dazu auf, alle erforderlichen Massnahmen zu ergreifen, um Verstösse gegen die UNO-Kinderrechtskonvention künftig zu vermeiden. In diesem Zusammenhang empfiehlt der Ausschuss konkret, alle rechtlichen, administrativen und finanziellen Hindernisse zu beseitigen, damit Kinder Zugang zu angemessenen Verfahren haben und die sie betreffenden Entscheidungen anfechten können; Kinder im Rahmen von Asylverfahren systematisch anzuhören sowie sicherzustellen, dass die nationalen Protokolle für die Rückführung von Kindern oder die Rückübernahme aus Drittländern im Einklang mit der UNO-Kinderrechtskonvention stehen.