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Menschenhandel in der Schweiz - Herausforderungen

27.07.2023

Menschenhandel ist eine schwere Straftat und Menschenrechtsverletzung, die auch in der Schweiz stattfindet. Oft wird sie jedoch nicht als solche erkannt und Betroffene von Menschenhandel haben keinen Zugang zu Schutz, Unterstützung und ihren Opferrechten. Ein Überblick über die dringendsten Herausforderungen.

Verfasserin: FIZ Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (Auszug aus dem Grundlagenartikel «Menschenhandel in der Schweiz: Zahlen, Grundlagen, Herausforderungen», Juni 2023)

Opfer von Menschenhandel in der Schweiz müssen besser geschützt werden. Dafür brauchen sie einen sicheren Aufenthalt sowie Zugang zu einer umfassenden und spezialisierten Beratung, Betreuung und Unterbringung – auch bei Tatort im Ausland. Es braucht die Anwendung des Non-Punishment-Prinzips, sodass Opfer von Menschenhandel nicht zusätzlich wegen Verstössen gegen das Migrationsrecht, gegen das Arbeitsrecht oder strafbarer Handlungen (z.B. Diebstahl oder Drogenhandel.), die sie während der Ausbeutungssituation begangen haben, bestraft werden. Der Opferschutz im Asylverfahren muss im Minimum demjenigen im Ausländer*innenrecht gleichgestellt werden. Gefordert wird zudem ein schweizweiter Opferschutz, bei dem kantonsübergreifende Unterstützung für Betroffene geboten werden kann – denn Menschenhandel kennt keine (Kantons-)Grenzen.

Massnahmen zur Bekämpfung von Menschenhandel wurden in diversen internationalen Verträgen festgehalten, die auch die Schweiz ratifiziert hat und somit bindend sind. In diesen Verträgen wurde die Straftat «Menschenhandel» definiert, die Rechte von Opfern von Menschenhandel festgeschrieben, sowie die Rechte von besonders vulnerablen Personengruppen, wie Frauen und Kinder, die Opfer von Menschenhandel werden, definiert und verankert. Eine ausführliche Dokumentation der internationalen und nationalen Rechtsgrundlagen zu Menschenhandel finden Sie hier.

Was wissen wir über Menschenhandel in der Schweiz?

Das Bedürfnis, Menschenhandel in Zahlen und dadurch in seinem Ausmass und seinen Charakteristika fassen zu können, ist gross. Gleichzeitig sind repräsentative Zahlen praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. Wird der Menschenhandel doch oft nicht erkannt («Hell-Feld») und ist die Dunkelziffer («Dunkel-Feld») dadurch unmessbar hoch. So gleichen die Zahlen eher einer Mutmassung, höchstens einer Tendenz. Nichtsdestotrotz bieten sie Orientierung und können Trends aufzeigen.

Blicken wir auf die Zahlen der Schweizer Plattform gegen Menschenhandel (Plateforme Traite), wurden von den vier dazugehörigen spezialisierten Opferschutzorganisationen im Jahr 2021 schweizweit 429 Menschen als Opfer von Menschenhandel identifiziert. Dabei handelt es sich bei ca. 80 Prozent um weibliche Opfer, allerdings stieg der Anteil an männlichen Betroffenen in den letzten Jahren an. Rund zwei Drittel aller betroffenen Personen wurden in der Prostitution ausgebeutet. Betroffene von Menschenhandel zwecks Ausbeutung der Arbeitskraft sowie Menschenhandel zwecks Ausübung krimineller Handlungen stellen das andere Drittel dar. Sie wurden u.a. in Privathaushalten, in der Gastronomie, in Nailstudios, im Baugewerbe und in der Bettelei ausgebeutet oder gezwungen, illegale Handlungen wie Diebstahl oder Drogentransporte zu begehen. Insgesamt kamen die Opfer aus 55 verschiedenen Ländern. Die häufigsten Herkunftsländer der neu identifizierten Opfer waren Nigeria, Rumänien, Brasilien und Ungarn. 40% der Opfer sind aus afrikanischen Ländern, 30% aus europäischen, 17% aus asiatischen und 12% lateinamerikanischen Ländern.

Des Weiteren erfasst das Schweizerische Bundesamt für Statistik ebenfalls Daten zu zur Anzahl Betroffener von Menschenhandel, welche von den kantonalen Opferhilfestellen erhoben werden. Diese beziehen sich allerdings auf andere Quellen als der auf Menschenhandel spezialisierten Opferhilfestellen der Plateforme Traite. Somit gibt es auch innerhalb der Schweiz keine einheitliche Datenerhebung zu Opfern von Menschenhandel.

Aktuelle Herausforderungen in der Bekämpfung von Menschenhandel

Fehlende Aufenthaltsbewilligung

Nach der Identifizierung als Opfer von Menschenhandel und dem Ausbruch aus der Ausbeutungssituation stehen Betroffene vor grossen Herausforderungen. Eine besondere Belastung für die oft schwer traumatisierten Menschen ist die fehlende sichere Aufenthaltsbewilligung.

Der Opferschutz muss umfassender geregelt werden. Zwar ermöglicht Art. 30 Abs. 1 Bst. B AIG die Abweichung der Zulassungsvoraussetzungen bei einem schwerwiegenden persönlichen Härtefall, jedoch reicht diese Regelung infolge ihrer Kann-Formulierung nicht aus. Zudem liegt die Beurteilung eines Härtefalls im Ermessen der Kantone und wird dadurch uneinheitlich angewendet. Um den nötigen Opferschutz zu gewähren, braucht es einen Rechtsanspruch auf Aufenthalt. Mit dem Bundesgerichtsentscheid vom 14. Dezember 2021 (BGer 2C_483/2021) bewegt sich die Schweizer Rechtsprechung zwar in eine gute Richtung, in der Praxis bestehen allerdings weiterhin wichtige Hürden: der Ermessensspielraum der Behörden ist sehr gross und die Wartezeit auf einen Entscheid, gerade wenn er über mehrere Instanzen weitergezogen wird, dauert bei vielen Betroffenen lange, teilweise mehrere Jahre. Die Plateforme Traite fordert zudem, dass Betroffenen von Menschenhandel eine Aufenthaltsbewilligung gewährt werden muss, die ihnen die Teilnahme am gesamten Strafverfahren ermöglicht. Aufgrund ihrer Schutzpflicht müsse die Schweiz auch das Recht auf eine längerfristige Aufenthaltsbewilligung auch unabhängig von einer Zusammenarbeit der Opfer mit den Strafverfolgungsbehörden gewähren. Eine längerfristige Aufenthaltsbewilligung müsse zudem, unabhängig davon, in welchem Land das Opfer ausgebeutet wurde, erteilt werden. Ausserdem müssten bei der Gewährung einer längerfristigen Aufenthaltsbewilligung die Risiken einer Rückkehr in das Herkunftsland berücksichtigt werden. Denn einigen Opfern von Menschenhandel droht bei einer Rückkehr Verfolgung. Sie benötigen Asyl. Sie sollten die Möglichkeit erhalten einen Asylantrag zu stellen.

Zugang zum Opferschutz / Tatort Ausland

Jedem Opfer von Menschenhandel steht in der Schweiz gemäss Opferhilfegesetz Zugang zu psycho-sozialer Beratung, Begleitung, Übersetzung in der jeweils gesprochenen Sprache und Unterbringung zu. Jedem Opfer? Aktuell beruht das Schweizer Opferhilfegesetz auf dem Territorialitätsprinzip, d.h. der Tatort der Ausbeutung muss in der Schweiz liegen, damit die Unterstützung finanziert wird. Dies hat zur Folge, dass beispielsweise geflüchtete Betroffene von Menschenhandel, die in ihrem Herkunftsland oder auf der Flucht – in Italien, Griechenland, Lybien usw. – Opfer von Gewalt und Ausbeutung geworden sind, keinen Zugang zu ihren Opferrechten haben – der ihnen gemäss Europaratskonvention zur Bekämpfung von Menschenhandel (Art. 12) zustehen würde.

Für alle Betroffenen von Menschenhandel muss sichergestellt werden, dass die Identifizierung, die Erholungs- und Bedenkzeit und insbesondere der Zugang zum spezialisierten Opferschutz (durch Massnahmen wie angemessene und sichere Unterkunft, Beratung und Übersetzung sowie psychologische und materielle Hilfe) ab Verdacht gewährleistet sind – unabhängig vom Tatort des Menschenhandels, so findet die Plateforme Traite. Der Zugang zu opferhilferechtlicher Unterstützung ist auch je nach Kanton unterschiedlich, siehe dazu mehr im Abschnitt «Kantonale Unterschiede».

Identifikation von Opfer von Menschenhandel im Asylverfahren

Immer mehr Opfer von Menschenhandel kommen als Geflüchtete in die Schweiz. Ihre Situation im Schweizer Asylsystem ist besorgniserregend, denn der Opferschutz im Asylverfahren ist stark eingeschränkt. Sie können nicht die gleichen Rechte in Anspruch nehmen, wie Opfer, die dem Ausländerrecht unterstellt sind, v.a. auch, weil viele von ihnen im Ausland ausgebeutet worden sind (vgl. Abschnitt zu Tatort Ausland). Viele benötigen dringend psychosoziale Beratung, eine enge Betreuung und eine sichere Unterkunft, doch diese werden ihnen nur in seltenen Fällen gewährt und finanziert.

Gemäss der Plateforme Traite muss die Identifizierung von Opfern von Menschenhandel im Asylverfahren verbessert werden. Schon ab dem ersten Verdacht sollte die zuständige Asylbehörde ein mutmassliches Opfer mit einer spezialisierten Opferberatungsstelle direkt in Verbindung bringen, damit diese die Person gegebenenfalls als Opfer identifizieren und weitere Schutzmassnahmen ergreifen kann. Weiter soll die Schweiz bei Betroffenen von Menschenhandel im Dublin-Verfahren von ihrem Recht auf Selbsteintritt Gebrauch machen (Art. 17 Dublin III). Das heisst, dass die Schweiz von einer Rückführung in einen anderen Dublin-Staat absieht und das Asylgesuch selber bearbeitet und prüft. Dies soll vor allem dann geschehen, wenn eine Überstellung für das Opfer nachteilig ist (aufgrund von Gefährdung im anderen Dublin-Staat oder aufgrund der persönlichen physischen oder psychischen Verfassung). Auch Betroffenen, die sich hier im Asylverfahren befinden, stehen die von der Europaratskonvention gegen Menschenhandel garantierten Rechte zu. Die Schweiz wurde diesbezüglich auch von GRETA gerügt. Auch Opfer von Menschenhandel im Asylverfahren brauchen schon ab dem ersten Verdacht Zugang zu spezialisierter Unterstützung: Zugang zu einer geeigneten und sicheren Unterbringung, spezialisierte Beratung für Betroffene von Menschenhandel, Übersetzung, Zugang zu trauma-sensibler medizinischer und psychologischer Versorgung.

Fehlende Anwendung des Non-Punishment-Prinzips

Opfer von Menschenhandel werden in der Schweiz immer noch wegen Verstössen gegen das Migrationsrecht (z.B. wegen gefälschter Papiere), gegen das Arbeitsrecht oder gegen die Prostitutionsgesetze, resp. -verordnungen bestraft. Ebenfalls werden Opfer oftmals nicht als solche erkannt, gerade wenn kriminelle Tätigkeiten Teil der Ausbeutung sind bzw. sie zu diesen gezwungen werden. Wenn Opfer befürchten müssen, bestraft zu werden, wenden sie sich nicht an Unterstützungsorganisationen oder Behörden, wenn sie Hilfe brauchen. Täter können die Strafe zudem als Drohmittel verwenden. Im Schweizer Strafgesetzt gibt es keine klare gesetzliche Bestimmung zum Non-Punishment. Es liegt im Ermessen der Staatsanwaltschaften, Opfer wegen solcher Verstösse strafrechtlich zu belangen oder nicht. Ermittelnde Beamte müssen Verstösse in jedem Fall melden: Wenn Polizist*innen mutmassliche Opfer von Menschenhandel nicht als solche identifizieren, erhalten diese Bussen, werden ausgeschafft oder werden wegen Verstössen anderweitig bestraft.

Die FIZ fordert seit Jahren, dass mehr Schulungen zur Non-Punishment-Regelung für Strafverfolgungsbehörden, insbesondere auch für Staatsanwaltschaften, durchgeführt werden. Die Regelung ist als eine Form des Opferschutzes zu sehen. Es muss eine definitive Befreiung von der Bestrafung geben. Zudem sollte bei Verdacht der Einbezug von spezialisierten Opferschutzorganisationen so früh wie möglich erfolgen, da es unwahrscheinlich ist, dass ein Opfer seine Geschichte unverzüglich der Polizei preisgibt. Weiter sollte es eine präzise Verankerung des Grundsatzes des Non-Punishment im Strafgesetzbuch geben sowie eine Ausarbeitung standardisierter Mechanismen, einschliesslich Kriterien, nach denen Verstösse weder strafrechtlich verfolgt noch bestraft werden, sowie Leitlinien, wie ein Strafbefreiungsantrag im Einzelfall zu beurteilen ist (siehe dazu auch die «Urges» von GRETA im letzten Evaluationsturnus).

Kantonale Unterschiede

Es hängt stark vom Engagement der Kantone ab, ob Betroffene von Menschenhandel als Opfer erkannt werden und spezialisierte Unterstützung, eine geschützte Unterkunft und professionelle Beratung und Begleitung erhalten, so die Plateforme Traite. Die Schweiz hat die Europäische Konvention gegen Menschenhandel unterschrieben und muss die darin enthaltenen Opferrechte auf dem ganzen Landesgebiet umsetzen.
Jeder Kanton kann jedoch selber entscheiden, ob ein Kooperationsgremium gegen Menschenhandel existiert, wie er die Zusammenarbeit der Akteur*innen einrichtet und wie er den Opferschutz ausgestaltet und finanziert. Das bewirkt, dass der Opferschutz und die Strafverfolgung in einigen Kantonen sehr gut funktionieren, spezialisierte und qualifizierte Stellen eingesetzt und finanziert sind, in anderen aber nicht oder kaum.

Gemäss der Plateforme Traite braucht es in allen Kantonen (oder in kantonalen Zusammenschlüssen) Runde Tische mit den relevanten Akteur*innen, mit klaren Aufträgen der Beteiligten und definierten Abläufen der Zusammenarbeit, damit Identifizierung, Unterstützung und Opferschutz für alle Formen von Menschenhandel und für alle Opfer gewährleistet sind. Zudem müssen Opfer von Menschenhandel in allen Kantonen Zugang zu spezialisierter Beratung und einer sicheren Unterkunft haben, die von einer spezialisierten Opferschutzorganisation betreut wird. In jedem Fall und in allen Kantonen muss gewährleistet sein, dass für die Identifizierung, Beratung und Betreuung mutmasslicher Opfer von Menschenhandel spezialisierte Opferschutzorganisationen zum frühestmöglichen Zeitpunkt einbezogen werden. Es braucht schweizweit einheitliche Standards für spezialisierte Opferbetreuung und Opferschutz, um die professionelle Qualität und Transparenz zu gewährleisten und Opferrechte zu garantieren. Spezialisierte Opferschutzorganisationen müssen offiziell anerkannt und angemessen finanziert sein.

Auch die Expert*innengruppe des Europarates „Group of experts on action against human trafficking“ GRETA kritisierte diese Probleme in den zwei letzten Evaluationen mehrfach, siehe hier.
Mehr zur aktuellen Situation bezüglich den kantonalen Unterschieden in der Bekämpfung von Menschenhandel finden sich in der Studie «Bekämpfung von Menschenhandel in kantonalen Kontext», die im Rahmen des Zweiten Nationalen Aktionsplans zur Bekämpfung von Menschenhandel vom Bund in Auftrag gegeben wurde.

Straflosigkeit der Täter*innen

Das Risiko einer Verurteilung infolge Menschenhandels ist gemäss den Zahlen des Bundesamtes für Statistik in der Schweiz gering. Zwar gibt es durch die verbesserte Zusammenarbeit der beteiligten Behörden und der Sensibilisierung von Polizei und Justiz vermehrt Ermittlungen gegen Menschenhandel. Aufgrund der nur beschränkten Ressourcen für die Strafverfolgung und Opferbetreuung sowie der Beweisführung, die vor den urteilenden Gerichten oftmals nicht standhält, sind trotz aufwändigen Strafuntersuchungen oft Freisprüche und milde Straften ausgesprochen worden.

Ermittlungserfolge hängen davon ab, wie gut die Polizist*innen und Untersuchungsrichter*innen ausgebildet sind. Weiterbildungen für Polizist*innen sind deshalb elementar, denn so wird ihr Verständnis für die Lage der Opfer, ihr Aussageverhalten und ihre Ängste verbessert. In den meisten Kantonen, insbesondere aber die grossen und urbanen, gibt es heute sogenannte «Runde Tische» zur Bekämpfung von Menschenhandel. Eine enge Zusammenarbeit unter Expert*innen aus den Bereichen der Prävention, Strafverfolgung und Opferschutz führt zu einer Verbesserung der Situation für Opfer und somit vermehrt zu Strafanzeigen.