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Schweizer Praxis bei Rückführungen auf dem Luftweg gefährdet Menschenrechte

05.04.2022

Über 100 Personen werden jährlich gegen ihren Willen auf dem Luftweg aus der Schweiz rückgeführt, darunter auch Familien mit Kindern. Trotz jahrelanger Kritik der Zivilgesellschaft und internationaler Menschenrechtskomitees wenden Polizist*innen auf Rückführungsflügen regelmässig verschiedene Formen von Zwang und Gewalt an. Massnahmen, die in ihrer Umsetzung oft gegen die Menschenrechte verstossen.

Joseph Chiakwa stirbt am 17. März 2010 auf dem Flughafen Zürich während einer Zwangsausschaffung auf Vollzugsstufe 4. Er befindet sich zu diesem Zeitpunkt seit mindestens 6 Wochen im Hungerstreik. Weil er bei der Teilfesselung mit den Händen «herumfuchtelt», wird er mit Helm und Gesichtsnetz auf einem Rollstuhl festgebunden. Erst als sein Puls nicht mehr fühlbar ist, wird er entfesselt. Für zivilgesellschaftliche Organisationen ist der 29.-Jährige eindeutig an den Folgen seines Hungerstreiks und den durch die Ausschaffung und Fesselung verursachten Stress gestorben. Bis heute wurde sein Tod von den Behörden nicht lückenlos aufgeklärt.

Die Schweizer Praxis beim Vollzug von Wegweisungen zählt auch heute noch zu den härtesten in Europa. Nicht selten wird ausufernde Gewalt bei Rückschaffungen anhand von Medienberichten publik. Doch die öffentlichkeitswirksamen Einzelfälle bilden nur die Spitze des Eisbergs: Gemäss der Schweizerischen Flüchtlingshilfe steigt die Zahl der Sonderflüge stetig an und ist meist mit unverhältnismässigen Gewaltanwendungen verbunden. Diese Praxis bleibt auch auf internationaler Ebene nicht unerkannt: Der UNO-Antifolterausschuss rügte die Schweiz im Jahr 2010 für die Anwendung übermässiger Gewalt und Misshandlungen bei Rückführungen und mahnte auch im Jahr 2015 zum verhältnismässigen Einsatz von Zwangsmassnahmen.

Wann und welche Zwangsmassnahmen von Seiten der Polizeibeamt*innen bei Rückschaffungsflügen erlaubt sind, regelt Artikel 28 der Zwangsanwendungsverordnung ZAV. Personen, die einer selbstständigen Rückreise – Vollzugsstufe 1 – nicht zustimmen, werden auf Vollzugsstufe 2 in Begleitung zweier ziviler Beamt*innen mit einem Linienflug rückgeführt. Wird von der rückzuführenden Person körperlicher Widerstand erwartet, kommt Vollzugsstufe 3 zur Anwendung: Die Polizeibeamt*innen können Teil- und Ganzkörperfesselungen sowie körperliche Gewalt einsetzen. Wird «starker» körperlicher Widerstand angenommen, erfolgt die Rückschaffung zudem per Sonderflug und unter Begleitung mindestens zweier Polizist*innen – der Vollzugsstufe 4.

Seit Juli 2012 organisiert die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter NKVF Flugbegleitungen auf Sonderflügen und berichtet jährlich über die Praxis der Behörden. Die Kommission beobachtet bis heute wiederholt «unangemessene polizeiliche Praktiken» und den übermässigen Einsatz von präventiven Fesselungen bei Rückführungen. Gemäss ihrem neusten Vollzugsmonitoringbericht wurden zwischen April 2020 und März 2021 in mehr als der Hälfte der Rückführungen auf Vollzugsstufe 4 Teilfesselungen eingesetzt. Dabei werden Handfesseln, Fuss- und Oberarmmanschetten sowie ein Gürtel angelegt, wobei die Handgelenke am Gurt fixiert werden. Die Kommission beurteilt die Teilfesselung und Überwachung der Betroffenen zum Teil als unverhältnismässig. In rund 10 Prozent der Fälle kamen zudem Ganzkörperfesselungen zum Einsatz, bei welchen Füsse und Beine mit Manschetten und Kabelbindern fixiert werden. Die NKFV berichtet zudem von der Anwendung von Metall-Handfesseln, Schutzhelmen und Spucknetzen. In einem Einzelfall wurde eine Person gar an einen Rollstuhl gefesselt zum Flugzeug gebracht – gemäss der NKVF eine entwürdigende Praxis. In mehreren Fällen sind die Betroffenen zudem lückenhaft oder unverständlich über ihre Zuführung und die Zwangsmassnahmen informiert worden.

Besonders schwerwiegend sind Zwangs- und Gewaltanwendungen bei Rückführungen von Familien und Kindern. Immer wieder werden Familien nächtlich angehalten, gestaffelt rückgeführt sowie Elternteile oder manchmal sogar Kinder gefesselt. Zudem müssen Kinder regelmässig Gespräche zwischen ihren Eltern und dem Begleitpersonal übersetzen. Mit diesen Praktiken werden das Kindeswohl und die Einheit der Familie gefährdet.

Schliesslich ist die Gesundheitsversorgung der Personen auf Rückschaffungsflügen nicht immer gewährleistet. Über Stunden erzwungene Immobilität und die Fesselungen auf Vollzugsstufe 4 kann in Verbindung mit Helm- und Spuckschutz eine effiziente Überwachung des Gesundheitszustandes verunmöglichen. Nicht zuletzt beriefen sich behandelnde Ärzt*innen bei Rückführungen regelmässig auf ihr Arztgeheimnis oder ihre Berichte wurden vom medizinischen Begleitpersonal auf den Flügen ignoriert. Seit März 2022 liegt der Entscheid über die Transportfähigkeit einer Person ausschliesslich bei der medizinischen Fachperson des SEM.

Zwangsausschaffungen sind aus menschenrechtlicher Perspektive an sich heikel. Durch den Vollzug gegen den Willen einer Person wird massiv in ihre Rechte und Freiheiten eingegriffen. Die Praxis der Schweizer Behörden beim Rückschaffungsvollzug beinhaltet unverhältnismässige Eingriffe in die persönliche Freiheit (Art. 5 EMRK) und die Menschenwürde (Art. 7 BV) der Betroffenen sowie das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und Strafe (Art. 3 EMRK, Art. 7 UNO Pakt II). Der Tod von Joseph Chiakwa verdeutlicht, dass beim Rückführungsvollzug schliesslich auch das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) gefährdet ist. Die Art und Weise der Rückführung von Familien und Kindern stellt zudem die Gewährleistung der UNO-Kinderrechtskonvention in Frage.