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Interlakener Erklärung zur Reform des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)

22.02.2010

Die Vertreter/innen der 47 Mitgliedsstaaten des Europarates haben am 19. Februar 2010 in Interlaken eine Deklaration zur Zukunft des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verabschiedet. Die Eidgenossenschaft als Organisatorin der Konferenz ist zufrieden mit diesem Ergebnis. Die Deklaration beinhaltet allerdings wenig Handfestes und ist vorab eine politische Erklärung, in welcher die Mitgliedsstaaten ihren gemeinsamen Willen bekunden, die langfristige Zukunft des EGMR zu sichern. Ob eine solche Deklaration genügend Druck auf Staaten wie Russland macht, ist fraglich. Positiv ist immerhin, dass Moskau in Interlaken die Ratifikationsurkunde für das Zusatzprotokoll Nr. 14 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) offiziell übergeben hat.

Fahrplan zur Entlastung des Gerichtshofs

Konkret enthält die nun verabschiedete Deklaration von Interlaken eine zeitliche Agenda für die nächsten Jahre. Damit ist gesichert, dass die Reform des Gerichtshofs weiterhin ein wichtiges Thema im Ministerrat bleibt. So hält die Deklaration etwa fest, dass die Mitgliedsstaaten bis Ende 2011 aufzeigen müssen, welche Massnahmen sie getroffen haben, um den Gerichtshof zu entlasten. Angeführt ist in der Deklaration unter anderem die Aufforderung an die Mitgliedsstaaten mit dem Ministerrat zu kooperieren, um zu verhindern, dass Fälle nach Strassburg gelangen, welche eine Ähnlichkeit mit bereits erfolgten Urteilen haben.

Leider beinhaltet die Deklaration keine Aussagen über zusätzliche finanzielle Mittel für den EGMR. Im Gegenteil betont sie, dass der Gerichtshof Wege suchen soll, mit den vorhandenen Mitteln effizienter umzugehen. Damit hat sich eine zentrale Forderung von internationalen NGOs (noch) nicht durchgesetzt. Bedauerlich ist auch, dass in der Erklärung konkrete Angaben über die Ausgestaltung von Filtermechanismen für die Zulassung von Klagen fehlen, welche über diejenigen hinausgehen, die bereits im Zusatzprotokoll Nr. 14 festgehalten sind. Dazu enthält die Erklärung lediglich die Aufforderung an das Ministerkomitee, zusätzliche Filtermechanismen zu überprüfen. Solche sollen an der Konferenz des Ministerkomitees am 11. Mai 2010, am letzten Tag des Präsidialhalbjahres der Schweiz, besprochen werden.

Deklaration hält Verantwortung der Staaten fest, ohne konkret zu werden

Die Deklaration bekräftigt mit dem Subsidiaritätsprinzip die primäre Verantwortung der Staaten, die EMRK in ihrer Rechtssprechung zu beachten und die gefällten Urteile auch tatsächlich umzusetzen. Die Deklaration ist neutral formuliert, weil sonst eine einstimmige Verabschiedung nicht möglich gewesen wäre. Allerdings ist es fraglich, ob die Interlakner Konferenz und ihre Schlussdeklaration Staaten wie Russland, Türkei, Rumänien und die Ukraine genügend unter Druck setzt, um ihre strukturellen Mängel im Prozesswesen zu beheben. Diese Staaten tragen ohne Zweifel eine grosse Mitverantwortung an der Überlastung des Gerichtshofs in Strassburg.

Dokumentation

Zahlen, welche die Überlastung des Gerichtshofs untermalen

Pro Tag treffen in Strassburg durchschnittlich 1500 Briefe, Fax und E-Mails von Menschen ein, die sich über die Behandlung durch Gerichte und andere Behörden in ihrer Heimat beklagen. Dies berichtete die Online-Ausgabe der Basler Zeitung (BaZ) vom 19. Februar 2010 mit dem Hinweis, dass 90 Prozent der Beschwerden unzulässig und die Hälfte der zulässigen wiederum Wiederholungsfälle seien. Weiter schrieb die BaZ: «In den 47 Staaten des Europarats leben 800 Millionen Personen. Im Prinzip steht ihnen allen das Recht zu, sich beim EGMR wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention zu beschweren. Die Kehrseite der Medaille ist ein völlig überlasteter Strassburger Gerichtshof. 120'000 Beschwerden waren Anfang Jahr hängig: Davon stammten 33'500 aus Russland, wo es namentlich wegen des Konflikts in Tschetschenien Beschwerden hagelte. Auch viele Türken (13'100 Pendenzen), Ukrainer und Rumänen (je 10'000 Pendenzen) versuchen mit dem «Gang nach Strassburg» zu ihrem Recht zu kommen. Aus der Schweiz sind 417 Fälle hängig. Die 47 Richter behandelten letztes Jahr zwar 30'000 Beschwerden, aber gleichzeitig kamen 57'000 hinzu.»

Internationaler NGO-Appell

Aus NGO-Sicht ist klar, dass die internationalen Reformbemühungen nur dann glaubwürdig sein werden, wenn die Mitgliedstaaten des Europarats bereit sind, das Budget des EGMR substanziell zu erhöhen. Hingegen ist es nicht annehmbar, das Individualbeschwerderecht durch neue Hürden einzuschränken, insbesondere nicht durch neue finanzielle Bürden für die Beschwerdeführer wie Gerichtsgebühren, Anwaltszwang und Überwälzung von Übersetzungskosten. In diesem Falle würde eine institutionelle Diskriminierung von sozial Benachteiligten beim Zugang zum Menschenrechtsgerichtshof eingeführt, was die ganze Institution in einen inneren Widerspruch bringen würde.

Diese und weitere Stellungnahmen zu den Reformbemühungen lancierte eine internationale Koalition von Nichtregierungsorganisationen im Dezember 2009. Der Kern der Botschaft lautet, dass die 47 Mitgliedsstaaten des Europarats ihren politischen Willen verstärken müssten, um eine innerstaatliche Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention zu gewährleisten, und dass weitere Einschränkungen des Individualbeschwerderechts beim Strassburger Gerichtshof nicht akzeptabel seien.

Der nachstehende NGO-Appell von internationalen Menschenrechtsorgasnisationen wurde von 156 NGO aus Mitgliedsländern des Europarats unterzeichnet. (Die Liste der unterzeichnenden NGO ist dem Appell beigefügt; Humanrights.ch hat den Appell auch unterzeichnet und figuriert unter «Verein Humanrights.ch»).

Für kritische Begleitung der Konferenz sorgte des weiteren die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). Sie forderte die Minister der 47 Mitgliedländer des Europarats am 18. Februar 2010 in Interlaken mittels einer Protestaktion auf, die verbreitete Straflosigkeit in Russland klar zu verurteilen und die russische Regierung zur Durchsetzung der Menschenrechtskonvention zu verpflichten. Die NGO erinnerte daran, dass Russland vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits über hundert Mal wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt wurde, ohne dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen worden sind.

Informationen zur Konferenz

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