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Sozialhilfe: Menschen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit werden strukturell benachteiligt

23.01.2023

In den letzten Jahren sind Menschen ohne Schweizer Staatsbürger*innenschaft wiederholt Zielscheibe gesetzlicher Verschärfungen in der Sozialhilfe geworden. Aus Angst um ihre Aufenthaltsbewilligung verzichten deshalb viele Personen ohne Schweizer Pass auf den Sozialhilfebezug – obwohl sie darauf einen rechtmässigen Anspruch hätten.

In der Schweizer Gesetzgebung sind das Sozial- und Migrationsrecht zusehends miteinander verknüpft. Menschen ohne Schweizer Pass werden in der Sozialhilfe vor dem Hintergrund migrationspolitischer Überlegungen zum Teil erheblich benachteiligt.

Strukturelle Benachteiligungen führen zu erhöhter Sozialhilfeabhängigkeit

Fast die Hälfte der 150'000 Personen in Erwerbsarmut besitzen keinen Schweizer Pass. Sie sind häufiger in Tieflohnjobs und unsicheren Arbeitsverhältnissen angestellt und damit einem grösseren Risiko von struktureller Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Infolgedessen ist die Sozialhilfequote von Personen ohne Schweizer Pass bis zu dreimal – darunter jene von Drittstaatenangehörigen bis zu viermal – höher als diejenige von Schweizer Staatsbürger*innen.

Für Drittstaatenangehörige – das heisst Menschen die nicht aus Staaten der Europäischen Union oder dem Schengen-Raum kommen – ist die Sozialhilfe häufig eine Art Sozialversicherung, da sie keinen Zugang zu anderen Sozialleistungen wie einer IV-Rente oder Arbeitslosengeld haben. Sie beziehen deshalb im Durchschnitt deutlich länger Sozialhilfe. Diese längere Bezugsdauer nahm der Bundesrat jüngst als Grund, um die Kürzung der Sozialhilfeleistungen für Drittstaatsangehörige zu veranlassen.

Die einzige Chance auf Unabhängigkeit von der Sozialhilfe ist die (Wieder-) Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Durch die starke Gewichtung der wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit in der Sozialhilfe geraten insbesondere geflüchtete Menschen unter Druck. Im Jahr 2020 lag die Sozialhilfequote geflüchteter Menschen bei 83,2 Prozent. Der Ausweg aus der Sozialhilfeabhängigkeit wird geflüchteten Menschen jedoch stark erschwert: Solange ihr Asylgesuch noch hängig ist, dürfen sie nicht am Arbeitsmarkt teilnehmen.  Auch mit anerkanntem Status als «Flüchtling» (B-Ausweis) oder mit der vorläufigen Aufnahme (F-Ausweis) sind diese Menschen aufgrund von Ausbildung, Sprachkenntnissen, Nicht-Anerkennung ihrer Diplome oder Diskriminierung im Einstellungsverfahren im Arbeitsmarkt stark benachteiligt.

Zunehmende Verknüpfung von Sozial- und Migrationsrecht

Der Sozialhilfebezug wird – anders als der Bezug anderer Sozialversicherungsleistungen – als fehlende Integration gewertet, weil eine Teilhabe am Wirtschaftsleben und damit die Sicherung der eigenen Lebenshaltungskosten nicht möglich sind. Migrationspolitische Überlegungen führen deshalb zu immer stärkeren Restriktionen der Sozialhilfe für Menschen ohne Schweizer Pass. Dabei greift das Migrationsrecht immer stärker in das Sozialhilfesystem ein. Seit dem Jahr 2010 gab es neun Gesetzesänderungen des Asylgesetzes sowie des «Ausländer-» und Integrationsgesetzes AIG, welche etwa Sozialhilfeausschlüsse und tiefere Unterstützungsansätze für bestimmte Gruppen von Ausländer*innen, sowie Einschränkungen der Wohnsitzwahl (Art. 85 Abs. 5 AiG) und des Familiennachzuges (Art. 85 Abs. 7 AiG) bei Sozialhilfebezug einführten. Im Rahmen einer laufenden Revision des AIG sollen in Zukunft zudem Familienangehörige, welche im Rahmen eines Familiennachzugs in die Schweiz gelangen, in den ersten drei Jahren nach Erhalt ihrer Aufenthaltsbewilligung weniger Sozialhilfe beziehen können.

Folge der zunehmenden Verknüpfung von Migrationsrecht und Sozialhilfe ist nicht zuletzt, dass sich die Anforderungen bezüglich des rechtlichen Fachwissens und der Aufwand für die Sozialarbeitenden laufend erhöhen. Besonders in kleinen kommunalen Sozialdiensten ohne spezialisiertes Fachpersonal kann dies zu Überforderung führen. Aus Spar- und Zeitdruck bei den Sozialhilfebehörden werden die Beratung und Betreuung der Betroffenen deshalb vermehrt von privaten Unternehmen und Freiwilligen übernommen.

Grosse Unterschiede bei Sozialhilfeleistungen

Das Asylgesetz enthält den Grundsatz, dass die Sozialhilfeleistungen für Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene und Personen mit Schutzstatus S tiefer sein müssen als jene der «einheimischen Bevölkerung» (Art. 82 Abs. 3 AsylG). Begründet wird diese Regelung damit, dass sich die betroffenen Personen nur vorübergehend in der Schweiz aufhalten würden und deshalb kein Geld für die Teilhabe an der Gesellschaft bräuchten. Dies entspricht jedoch nicht der Realität, denn vorläufig aufgenommene Personen leben in der Regel dauerhaft in der Schweiz. Sie erleben so bezüglich der Höhe der Sozialhilfeleistungen eine strukturelle Diskriminierung.

Im Asylbereich unterscheiden sich die Unterstützungsansätze in der Sozialhilfe zudem stark zwischen den Kantonen. Zwar existiert als Grundlage für die Bestimmung des Grundbedarfs das Referenzbudget der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS, welches sich am Warenkorb der 10 Prozent einkommensschwächsten Haushalte orientiert. Die Festsetzung der Referenzgrösse ist letztlich aber ein politischer Entscheid, bei welchem finanzpolitische Überlegungen sowie asylpolitische Haltungen eine Rolle spielen. So stehen für die Lebenshaltungskosten von vorläufig aufgenommenen Personen je nach Kanton zwischen 9 und 26 Fr. zur Verfügung.

Anders sieht es bei Personen aus, deren Asylgesuch abgewiesen wurde. Seit 2004 gilt ein Sozialhilfestopp für alle Personen mit einem rechtskräftigen Nichteintretensentscheid (NEE) auf ein Asylgesuch, seit 2008 zudem für Personen mit einem rechtskräftigen negativen Asyl- und Wegweisungsentscheid und angesetzter Ausreisefrist. Die Betroffenen können keine Sozialhilfe, sondern lediglich noch Nothilfe beantragen. Die Nothilfe soll das Existenzminimum sichern und umfasst Nahrung, Kleidung, medizinische Grundversorgung, Hygiene und Unterkunft. Sie deckt nur einen Teil des Grundbedarfs, denn Beiträge für Bildung und Mobilität fehlen. Dies trägt insbesondere bei Personen, die nicht ausreisen können, zu einer grossen psychischen Belastung bei.

Sozialhilfebezug als Gefahr für die Aufenthaltsbewilligung

Neben Benachteiligungen beim Sozialhilfebezug kann der Sozialhilfebezug per se weitreichende Konsequenzen für den Aufenthalt von Menschen ohne Schweizer Pass haben. Auf Grundlage einer Gesetzesverschärfung aus dem 2019 kann die Schweiz migrierten Menschen, welche Sozialhilfe beziehen, die Aufenthaltsbewilligung entziehen (Art. 62 Abs. 1 lit. e AiG). Auch Personen, die bereits eine Niederlassungsbewilligung besitzen, können diese aufgrund längeren Sozialhilfebezugs verlieren und nur noch eine Aufenthaltsbewilligung erhalten (Art. 63 Abs. 1 lit. c AiG). Begründet wird das damit, dass das bereits erwähnte Integrationskriterium «Teilnahme am Wirtschaftsleben» nicht mehr erfüllt sei (Art. 58a AiG). Seit 2019 wurde bei über 400 Menschen die Niederlassungsbewilligung aufgrund von Sozialhilfebezug auf eine Aufenthaltsbewilligung zurückgestuft. Die scharfe Praxis wird in verschiedenen Urteilen auch vom Bundesgericht gestützt. Es hält fest, dass der Entzug der Bewilligung auch dann verhältnismässig sein kann, wenn die Betroffenen ihrer Schadenminderungspflicht nachgekommen sind. Mit anderen Worten: auch wenn die Betroffenen alles Ihnen mögliche tun um ihre Abhängigkeit von der Sozialhilfe zu vermindern, kann ihnen die Bewilligung entzogen werden, weil laut dem Bundesgericht «im Rahmen des ausländerrechtlichen Verfahrens ein strengerer Massstab gilt» (BGE 2C_83/2018, BGE 2C_395/2017, BGE 2C_525/2020).

Aus Artikel 12 Absatz 1 des revidierten Bürgerrechtsgesetzes von 2018 und der Konkretisierung in Artikel 7 der Bürgerrechtsverordnung BüV von 2016 geht überdies hervor, dass eine Person sich nicht einbürgern lassen kann, wenn sie während des Einbürgerungsverfahrens oder drei Jahre zuvor Sozialhilfe bezogen und diese nicht bereits vollständig zurückerstattet hat. Damit sind Sozialhilfebezüger*innen nicht nur von einem Verlust ihres Aufenthaltsrechts bedroht, ihr Sozialhilfebezug wird überdies zum Ausschlusskriterium im Einbürgerungsverfahren. Die Behörden müssen im Einbürgerungsverfahren zwar die individuelle Situation einer Person, aufgrund welcher sie Sozialhilfe beziehen musste – wie Behinderung, Krankheit, Erwerbsarmut, Care-Arbeit oder Erstausbildung – berücksichtigen (Art. 9 BüV). In der Realität sind die Nachweise für solche Umstände, die oft auch strukturelle Ursachen haben, jedoch schwer zu erbringen.

Verzicht auf Sozialhilfe aus Angst vor den Konsequenzen

Weil der Bezug von Sozialhilfe eine Gefahr für den Aufenthaltsstatus darstellen kann, verzichten viele Personen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit auf die Beantragung von Unterstützungsleistungen, obwohl ihnen diese zustehen würden. Eine Studie des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS belegt, dass viele Familien mit Kindern unter die Armutsgrenze fallen, weil sie aus Angst vor dem Verlust ihres Aufenthaltsstatus keine Sozialhilfe beziehen. Durch den Kampf um die Existenzsicherung verschlechtern sich sodann die Bildungs- und Integrationschancen der ganzen Familie. Wenn Menschen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit nicht auf die Sozialhilfe zurückgreifen können, hat dies zudem für besonders vulnerable Gruppe – wie beispielsweise Frauen – gravierende Folgen. Sie sind damit schlechter vor den langfristigen Folgen von geschlechterspezifischer Gewalt ¬oder physisch und psychisch belastender Arbeit geschützt.

Dringender Handlungsbedarf

Die wiederholten, mit migrationspolitischen Argumenten begründeten gesetzlichen Verschärfungen des Asylgesetzes und des «Ausländer-» und Integrationsgesetzes  diskriminieren Personen ohne Schweizer Pass systematisch, schliessen sie vom Schweizer Sozialapparat aus und gefährden die Integrationsziele massiv. Aus diesen Gründen setzt sich ein Zusammenschluss von 65 Organisationen unter dem Titel «Armut ist kein Verbrechen» für Verbesserungen in der Sozialhilfe für Menschen ohne Schweizer Pass ein und unterstützt eine gleichnamige Parlamentarische Initiative der Nationalrätin Samira Marti. Ziel der Initiative ist es, dass der Aufenthaltsstatus von Personen, die seit mehr als 10 Jahren in der Schweiz leben, nicht mehr durch den unverschuldeten Bezug von Sozialhilfe gefährdet werden darf. Dies ist ein erster Schritt in Richtung menschenwürdige Behandlung von Asylsuchenden und Migrant*innen. Menschen, die weniger lange in der Schweiz leben, können jedoch auch bei Annahme und Umsetzung dieser Initiative weiterhin wegen Sozialhilfebezug ausgeschafft werden. Es besteht also fortwährend dringender Handlungsbedarf!

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