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Die Menschenrechte im Schweizer Sozialhilfesystem

23.11.2022

Das Schweizer Sozialhilfesystem weist aus menschenrechtlicher Perspektive zahlreiche Schwachstellen auf. Strukturelle Mängel und der zunehmende Druck öffentlicher Ausgabenkürzungen führen dazu, dass unterstützungsbedürftige Menschen unter prekären Bedingungen leben und Eingriffen in ihre Grund- und Menschenrechte ausgesetzt sind. Mit den bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen verletzt die Schweiz ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen.

Die Schweizer Sozialhilfe soll armutsbetroffenen Menschen ein würdiges Leben ermöglichen. Diesem verfassungsmässigen Grundsatz (Art. 7 BV) wird das Schweizer Sozialhilfesystem jedoch nicht gerecht: Die Unterstützungsleistungen variieren zwischen den Kantonen und Gemeinden stark, der Grundbedarf ist zu tief angesetzt und durch die fehlende Berücksichtigung struktureller Faktoren bei der Berechnung der Sozialhilfe werden bereits benachteiligte Personen zusätzlich diskriminiert.

Durch hinzukommende Eingriffe in ihr Recht auf Privatsphäre und einem mangelnden Zugang zum Recht sind Menschen, welche auf Sozialhilfe angewiesen sind, einer massiven Benachteiligung ausgesetzt. Aus menschenrechtlicher Perspektive ist das Sozialhilfesystem der Schweiz unzulänglich.

Sozialhilfe: Das Wichtigste in Kürze

In der Schweiz ist die (wirtschaftliche) Sozialhilfe die letzte Anlaufstelle, wenn alle anderen Systeme der sozialen Sicherheit nicht mehr zu Verfügung stehen. Sie kommt zum Zug, wenn (1) sich Personen in einer finanziellen Notlage befinden, in welcher sie sich nicht mehr selbst helfen können, (2) keine Hilfe durch Drittpersonen erfolgt und (3) kein Recht auf andere Sozialversicherungen besteht oder diese nicht ausreichen, um zu Überleben.

Die wirtschaftliche Sozialhilfe bildet die Sozialhilfe im engeren Sinne und soll den Grundbedarf decken. Zum Grundbedarf I, welcher der Existenzsicherung dient, gehören die Kosten des täglichen Bedarfs, die obligatorische Krankenversicherung und die Wohnungsmiete. Der Grundbedarf II soll darüber hinaus eine Teilnahme am sozialen Leben ermöglichen. Die wirtschaftliche Sozialhilfe beinhaltet neben der finanziellen Unterstützung auch die Beratung und Begleitung der betroffenen Personen durch Sozialarbeiter*innen. Gemeinsam mit allen vorgelagerten bedarfsabhängigen Sozialleistungen (z.B. AHV, «IV», Arbeitslosenhilfen oder Familienbeihilfen) bildet sie schliesslich die Sozialhilfe im weiteren Sinn,

Laut Berechnungen des Bundesamtes für Statistik bezogen im Jahr 2020 schweizweit 272’100 Personen mindestens einmal wirtschaftliche Sozialhilfe. Dies entspricht 3,2 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung. Die sozialhilfebeziehenden Personen unterscheiden sich stark in ihren Lebensläufen und in der Dauer der benötigten Unterstützung. Risikofaktoren, die einen Sozialhilfebezug wahrscheinlicher machen, sind eine tiefe Bildungsstufe (obligatorischer Schulabschluss als höchste Ausbildung), eine in der Schweiz nicht anerkannte Ausbildung, mehrere Kinder – insbesondere für alleinerziehende Personen –, gesundheitliche Probleme, ein tiefes oder hohes Lebensalter, der Bezug einer «IV»-Teilrente oder ein fehlendes soziales Netzwerk. Im Jahr 2020 waren in der Schweiz insbesondere Menschen ohne Schweizer Staatsbürgerschaft, Kinder, junge Erwachsene sowie geschiedene Personen auf Sozialhilfe angewiesen.

Fehlende Rahmengesetzgebung

Die Regulierung der Sozialhilfe fällt in den Kompetenzbereich der Kantone (Art. 115 BV). Welcher Kanton wann zuständig ist, ist im Bundesgesetz über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger (ZUG) festgelegt. Die Ausgestaltung der Sozialhilfe weist im kantonalen Recht jedoch erhebliche Unterschiede auf, denn eine nationale Rahmengesetzgebung für das Sozialhilfesystem existiert bis heute nicht.

So enthält die Bundesverfassung lediglich einzelne für die Sozialhilfe relevante Bestimmungen: In Artikel 12 ist verbrieft, dass wer «in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, ein Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind» hat. Nach bundegerichtlicher Rechtsprechung umfasst diese Bestimmung jedoch lediglich ein Anspruch auf das Existenzminimum – die Nothilfe – und nicht die umfassendere Sozialhilfe (BGE 136 I 254). Weiter enthält Artikel 41 der Bundesverfassung die sogenannten Sozialziele. Gemäss Bundesgericht kommt diesen jedoch rein programmatischen Charakter zu, weshalb sich daraus keine einklagbaren Ansprüche ableiten lassen (Art. 41 Abs. 4 BV).

Im Jahr 2015 ordnete der Bundesrat sodann die fehlende Verbindlichkeit der Sozialhilfe als nicht mehr zeitgemäss ein, verneint die Bundeskompetenz jedoch bis heute. Schliesslich bilden der grosse Ermessensspielraum der Kantone und der rein programmatische Charakter der Sozialrechte immer wieder Gegenstand politischer Vorstösse zur Schaffung eines Bundesrahmengesetzes. Die Harmonisierung der Sozialhilfegesetzgebung auf Bundesebene ist jedoch nicht in Sicht.

Mangelhafte Umsetzung internationaler Verpflichtungen

Die Sozialziele der Bundesverfassung basieren auf dem von der Schweiz ratifizierten Internationalen Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (UNO-Pakt I). Mit der Ratifizierung dieses Abkommens hat sich die Schweiz dazu verpflichtet, das in Artikel 9 verbriefte Recht auf soziale Sicherheit, sowie das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (Art. 11 Abs. 1 UNO-Pakt I) mit allen den ihr zur Verfügung stehenden und geeigneten Mitteln (Art. 2 UNO-Pakt I) sicherzustellen.

Wie den Sozialzielen in der Bundesverfassung misst die offizielle Schweiz den Bestimmungen von UNO-Pakt I jedoch lediglich programmatischer Charakter zu. In der Folge verweigert sie bis heute auch die Ratifizierung des Fakultativprotokolls, welches es Einzelpersonen erlauben würde, beim UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Individualbeschwerden gegen die Schweiz einzureichen.

Der UNO-Sozialausschuss hat die einschränkte Einklagbarkeit der Sozialrechte in der Schweiz sodann wiederholt kritisiert. Auch die regionale Ungleichbehandlung der Sozialhilfebeziehenden war im Jahr 2019 Bestandteil seiner Kritik und Empfehlung an die Schweiz. Die Mangelnde Umsetzung der internationalen Sozialrechte auf nationaler Ebene sei Ausdruck einer Stagnation in Zusammenhang mit bestimmten grundlegenden Herausforderungen.

Grosse regionale Unterschiede

Die Ausgestaltung der Sozialhilfe liegt in der Kompetenz der Kantone. Die kantonalen Sozialhilfegesetze weisen jedoch grosse Unterschiede auf und den Gemeinden steht bei deren Vollzug wiederum ein bedeutender Ermessensspielraum zu. Aus diesem Grund müssen die Sozialhilfebeziehenden je nach Kanton – oder gar Gemeinde – mit sehr unterschiedliche Leistungen rechnen.

Die Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS stellt den Kantonen zwar Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe zur Verfügung (SKOS-Richtlinien). Diese bilden aber lediglich Empfehlungen es bleibt Sache der Kantone, ob und inwieweit sie die SKOS-Richtlinien in ihre Sozialhilfegesetze übernehmen.

Aufgrund der mangelnden Harmonie in der Sozialhilfe führt die SKOS jedes Jahr ein Schweizweites Monitoring durch, mittels welchem die Defizite in den einzelnen Kantonen und Gemeinden ermittelt werden. Die erhobenen Daten zeigen, dass sich die kantonalen Sozialhilfegesetze zusehends verselbständigen: während sich die kantonal unterschiedlichen Unterstützungsbeiträge für die Finanzierung von Wohnraum noch mit den regionalen Mietpreisen erklären lassen, sind die Beitragsdifferenzen zur Deckung des Grundbedarfs für den Lebensunterhalt kaum zu rechtfertigen – die Preise für Gegenstände des alltäglichen Bedarfs wie Lebensmittel und Hygieneprodukte sind schweizweit in etwa gleich.

Zu niedriger Grundbedarf

In den SKOS-Richtlinien wird basierend auf einem Warenkorb der einkommensschwächsten 10 Prozent der Schweizer Bevölkerung der Preis des Grundbedarfes festgelegt. Dieser errechnete Grundbedarf deckt sich gemäss einer Studie aus dem Jahr 2019 jedoch nicht mehr mit den realen Kosten am Existenzminimum. Ein Einpersonenhaushalt der ärmsten Bevölkerungsgruppe in der Schweiz gibt für den Warenkorb des SKOS-Grundbedarfs – unter anderem für Essen, Hygiene, Kleidung, Bildung und Mobilität ohne Miete und Krankenkassenkosten – im Mittel 1’082 Franken pro Monat aus. Der von der SKOS festgelegte monatliche Grundbetrag für den Lebensunterhalt einer Person liegt seit 2020 jedoch lediglich bei 1’006 Franken.

Im Jahr 2021 bezahlten zudem ganze sieben Kantone weniger als 1’000 Franken an den Grundbedarf erwachsener Einzelpersonen. Überdies sind die kantonalen Unterschiede teilweise so gross, dass einer Person im Kanton Waadt zur Deckung des Grundbedarfs pro Monat 133 Franken mehr zur Verfügung stehen als einer Person im Kanton Bern. Bei den jungen Erwachsenen sind die Differenzen noch grösser: je nach Kanton wurden zwischen 457 und 997 Franken ausbezahlt.

Eine Studie der SKOS aus dem Jahr 2019 verdeutlicht schliesslich, dass Sozialhilfebeziehende in den letzten zwanzig Jahren von der allgemeinen Wohlstandsentwicklung ausgeschlossen worden sind. Vielmehr ist der Grundbedarf sogar gesunken – meist auf Kosten gesunder Ernährung und der Zukunftschancen von (minderjährigen) Sozialhilfebeziehenden.

Rückerstattungspflicht mit Folgen

Ein weiteres Defizit der Schweizer Sozialhilfe und Beispiel für die kantonale Ungleichbehandlung ist die Rückerstattungspflicht: in bestimmten Kantonen müssen von der Sozialhilfe bezogene Leistungen zurückerstattet werden, wenn die betroffene Person in eine «finanziell günstige» Lage kommt. Obwohl die SKOS in ihren Richtlinien empfiehlt, auf Rückerstattungen aus Erwerbseinkommen zu verzichten, folgend dieser Empfehlung nur neun Kantone.

In verschiedenen Gemeinden im Kanton Aargau wird von Sozialhilfebeziehenden sogar verlangt auf ihr Pensionskassenguthaben zurückzugreifen, um Sozialhilfegelder zurückzubezahlen. Gegen diese Praxis hat die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht UFS in einem Einzelfall Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht. Das Gericht beurteilt die Praxis jedoch für zulässig, solange im Falle einer Zwangsvollstreckung das betreibungsrechtliche Existenzminimum gewährleistet bleibt. Einzelfälle zeigen aber, dass die Rückerstattungs-Praxis in den Gemeinden mangelhaft umgesetzt und von Pensionierten eigentlich geschützte Altersguthaben zurückgefordert werden. Für die Rentner*innen entsteht damit nicht zuletzt ein erhöhtes Risiko, in Altersarmut abzurutschen.

Fehlender Schutz der Privatsphäre

Es gibt eine Reihe an gesetzlichen Bestimmungen in der Schweiz, die schwer in die Privatsphäre von Sozialhilfebezüger*innen eingreifen. In einem Datenfluss zwischen den Sozialdiensten und anderen Behörden werden Informationen ausgetauscht, ohne dass die Sozialhilfebezüger*innen darüber informiert oder ihre Einwilligung eingeholt werden müsste. Die zuständigen Sozialhilfebehörden müssen den Migrationsbehörden alle Menschen ohne Staatsangehörigkeit melden, welche auf Sozialhilfe angewiesen sind (Art. 97 AIG, Art. 82b VZAE). Ausserdem gibt es einen Datenaustausch mit verschiedenen Sozialbehörden wie etwa der «Invaliden»versicherung (Art. 3b Abs. 2j IVG, Art. 68bis Abs. 1bis IVG) oder der Arbeitslosenversicherung.

Auch diesbezüglich unterscheiden sich die kantonalen Regelungen: So besteht im Kanton Bern etwa für alle Sozialhilfebezüger*innen die Pflicht zur Vollmachterteilung (Art. 8a und 8b SHG), damit die zuständigen Sozialdienste bei sowohl privaten wie auch öffentlichen Institutionen Informationen über die Sozialhilfebezüger*innen beantragen dürfen. Ein Nichterteilen dieser Vollmacht gilt als Mitwirkungsverweigerung und hat dementsprechend eine Leistungskürzung zur Folge (Art. 36 SHG). Ein Eingriff in die Privatsphäre, welcher das Bundesgericht jedoch für verhältnismässig erachtet (BGer 8C_949/2011).

Ein noch einschneidenderer Eingriff in das Recht auf Schutz der Privatsphäre stellt die Überwachung von Sozialhilfebezüger*innen dar. Seit dem Jahr 2005 werden in immer mehr Kantonen sogenannte «Sozialdetektiv*innen» eingesetzt, die Sozialhilfebeziehende bei Verdacht auf Missbrauch unbemerkt im Alltag überwachen.  

Mangelnder Zugang zum Recht

Unter den prekären Bedingungen für die Grundrechte der Sozialhilfebeziehenden wäre ein effektiver Zugang zum Recht umso wichtiger. Eine Studie der Nationalen Plattform gegen Armut hat demgegenüber grosse Lücken im Rechtsschutz des Sozialhilfesystems festgestellt. Einsprachefristen sind teilweise zu kurz, was insbesondere für Menschen mit psychischen Erkrankungen oder in Krisensituationen ein Hindernis darstellt. Weiter kann auch die Auferlegung von Verfahrenskosten eine abschreckende Wirkung haben und die Sozialhilfebezüger*innen davon abhalten, (weitere) Rechtsmittel zu ergreifen. Die sehr restriktive Gewährung von unentgeltlicher Rechtspflege kommt erschwerend hinzu. De facto sind Leistungsbezüger*innen – bei allfälligen Einsprachen, Beschwerden oder Verfahren – im Sozialhilfesystem deshalb oft auf sich allein gestellt. Dies, obwohl das Sozialhilferecht auch von Anwält*innen und Richter*innen als sehr schwer verständlich eingestuft wird.

Darüber hinaus existieren gar kantonale Gesetzte, welche die Rechtsmittel für Sozialhilfebeziehende einschränken. Im Kanton Zürich ist es Sozialhilfebezüger*innen seit Anfangs 2022 verboten, Auflagen und Weisungen direkt anzufechten. Sie können sich somit nicht wehren und müssen tiefe Eingriffe in ihre persönlichen Verhältnisse erdulden. Da Zwischenverfügungen grundsätzlich in allen Lebensbereichen angefochten werden können, stellt diese Regelung eine Diskriminierung der Sozialhilfebezüger*innen dar. Die Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht UFS hat die Gesetzesänderung sodann beim Bundesgericht angefochten. Obwohl zwei Bundesrichter*innen das Gesetz als «eines Rechtsstaates unwürdig» bezeichneten, wurde die Beschwerde von einer Mehrheit der Vorsitzenden abgewiesen. Die Beschwerde der UFS gegen diesen Entscheid wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR nicht entgegengenommen.

Ein gesundheitsschädigendes System

Eine vom Bundesamt für Gesundheit BAG in Auftrag gegebene Studie zur Gesundheit von Sozialhilfebezüger*innen zeigt weiter auf, dass ein überdurchschnittlich grosser Teil der Sozialhilfebeziehenden in der Schweiz unter chronischen Erkrankungen, psychischen Beschwerden und tiefer Lebensqualität leiden. In den letzten 20 Jahren wurde zudem der Zugang zu «IV»-Renten erschwert, weshalb mehr Personen mit gesundheitlichen Problemen in der Sozialhilfe landen. Gemäss dem BAG unterscheiden sich Sozialhilfebeziehende in ausgewählten Bereichen – wie etwa dem Auftreten von Depressionssymptomen – kaum von «IV»-Bezüger*innen.

Gleichzeitig verzichtet ein grosser Teil der Sozialhilfebeziehenden aus finanziellen Gründen auf notwendige medizinische und zahnärztliche Untersuchungen. Gemäss Bundesgericht müssen Sozialämter sodann auch nur Behandlungen bezahlen, die «einfach, zweckmässig und wirtschaftlich» sind. Dabei können Gemeinden die freie Ärzt*innenwahl einschränken, eigene Vertrauensärzt*innen beiziehen und die gesamten Kosten den Betroffenen übertragen, wenn sich diese nicht um einen Kostenvoranschlag gekümmert haben.

Laut Caritas Schweiz verzichten schliesslich 30 bis 50 Prozent der Personen, die Anspruch auf Sozialhilfe hätten, auf den Bezug von Unterstützungsleistungen. Sie versuchen mit Zweit- und Drittjobs ihre Grundbedürfnisse zu decken und bringen dabei ihre physische, psychische und soziale Gesundheit in Gefahr. Die Gründe für den Verzicht sind vielfältig: besonders abschreckend wirken die bis tief in den Privatberiech reichende soziale Kontrolle, die Angst vor einer langen Auseinandersetzung mit den Behörden, die Unsicherheit in Verbindung mit dem Aufenthaltsstatus, die Möglichkeit in bestimmten Kantonen zur späteren Rückzahlung der Leistungen verpflichtet zu werden, sowie eine tiefe Scham und Angst vor einer Stigmatisierung.

Überforderte Sozialhilfedienste

Im Schweizer Sozialhilfesystem sind keine Aufsichtsorgane vorgesehen, welche regelmässig die Arbeit der Sozialdienste kontrollieren würden. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass die Sozialhilfearbeitenden in vielen Fällen überfordert sind und es ihnen an Sachkenntnissen fehlt. Die Folge davon sind rechtswidrige Praktiken wie etwa Leistungskürzungen ohne die erforderlichen Verfügungen. Durch die hohe Anzahl an zu bearbeitenden Fällen sind viele Sozialarbeiter*innen zudem überlastet, was unter anderem die Auslagerung der Arbeit an Hilfswerke und profitorientierte Firmen zur Folge hat. Mit Blick auf den Datenschutz und auf die Einmischung in die Sozialpolitik ist insbesondere die Auslagerung an externe Privatfirmen problematisch. Hinzu kommt, dass Springer*innen dieser Drittfirmen nicht auf ihre Qualifikation hin überprüft werden.

Ein Stellenausbau könnte viele diese Missstände beheben: Ein Versuch in Winterthur brachte hervor, dass die Personalaufstockung in der Sozialhilfe zu besserer Beratung und Betreuung führt. Die dadurch erleichterte Wiedereingliederung der Sozialhilfebeziehenden in den Arbeitsmarkt vermag die Gesamtkosten der Sozialhilfe mittelfristig merklich zu senken.

Strukturelle Benachteiligungen setzen sich in der Sozialhilfe fort

Schliesslich sind Menschen nicht nur auf Sozialhilfe angewiesen, wenn sie aufgrund fehlender Erwerbstätigkeit – etwa infolge von Arbeitslosigkeit oder Krankheit –ihren Lebensunterhalt nicht mehr vollumfänglich selbst bestreiten können. Vielmehr ist ein grosser Teil der sozialhilfebeziehenden Menschen von Erwerbsarmut betroffen: sie verdienen nicht ausreichend, um ihre Grundbedürfnisse selbst decken zu können. Davon betroffen sind etwa auch Menschen, die unbezahlte Care Arbeit leisten und deshalb nicht einer finanziell existenzsichernden Arbeit nachgehen können.

Fast die Hälfte der 150'000 Personen in Erwerbsarmut besitzen kein Schweizer Staatsbürger*innenschaft. Die Sozialhilfequote von Personen ohne Schweizer Pass ist bis zu dreimal höher, jene von Drittstaatenangehörigen bis zu viermal so hoch. Sie sind in Tieflohnjobs und unsicheren Arbeitsverhältnissen einem grösseren Risiko von struktureller Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Für Drittstaatenangehörige ist die Sozialhilfe zudem häufig auch Ersatz für andere Sozialversicherungen, zu welchen sie keinen Zugang haben.

Das Migrationsrecht greift weiter immer stärker in den Bereich der Sozialhilfe ein. Seit 2010 gab es neun Gesetzesänderungen des Asylgesetzes sowie des Ausländer- und Integrationsgesetzes AIG. Folgen davon waren Sozialhilfeausschlüsse und tiefere Unterstützungsansätze für bestimmte Gruppen, Einschränkungen der Wohnsitzwahl (Art. 85 Abs. 5 AiG) und des Familiennachzuges (Art. 85 Abs. 7 AiG), bis hin zum Entzug der Aufenthaltsbewilligung bei Sozialhilfebezug. Besonders die Gefährdung des Aufenthaltsstatus veranlasst viele Personen ohne Schweizer Staatsbürgerschaft dazu, trotz rechtmässigem Anspruch auf den Sozialhilfebezug zu verzichten. Seit 2004 gilt für Personen mit abgewiesenem Asylgesuch zudem ein Sozialhilfestopp. Die betroffenen Personen können keine Sozialhilfe, sondern lediglich Nothilfe beantragen.

Ein Drittel aller Sozialhilfebeziehenden in der Schweiz waren im Jahr 2019 weiter Kinder und Jugendliche. Sie sind jeweils von der Armut der Eltern mitbetroffen, welche zu 70 Prozent in Tieflohnjobs arbeiten und sich keine Kinderbetreuung leisten können. Auch sind überdurchschnittlich viele Alleinerziehenden von Armut betroffen. Diese Umstände haben Folgen für die körperliche und psychische Gesundheit sowie die beruflichen Zukunftsaussichten der Kinder. Mit der Ratifizierung des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (KRK) hat sich die Schweiz dazu verpflichtet, jedem Kind einen «seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard» zu gewährleisten (Art 27 KRK). Trotzdem sind schweizweit nur gerade einmal in vier Kantonen Familienergänzungsleistungen vorgesehen.

Besonders häufig auf Sozialhilfe angewiesen sind überdies Personen, welche das 50. Altersjahr überschritten haben. Werden sie arbeitslos, gestaltet sich die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt schwierig, weshalb sie ihr Vermögen oft bereits vor der Pensionierung aufbrauchen müssen. In der Folge sind sie auf Sozialhilfe angewiesen und starten verarmt in die Pension.

Dringender Handlungsbedarf!

Die heutige Gesetzgebung in der Sozialhilfe vermag den untestützungsbedüftigen Personen die Einhaltung ihrer Grundrechte nicht zu gewährleisten. Der Umgang mit den Daten von Sozialhilfebeziehenden sowie ihre Überwachung stellt eine Verletzung des Rechts auf Schutz der Privatsphäre dar (Art. 13 BV). Durch den Mangelnden Zugang zum Recht wird zudem ihr Anspruch auf ein faires Verfahren verletzt (Art. 29a BV, Art. 6 EMRK, Art. 14 UNO-Pakts II). Die in vielen Kantonen und Gemeinden angestrebte Reduzierungen der Sozialhilfekosten durch Leistungssenkungen verstossen sodann gegen die menschenrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz. Gemäss Artikel 5 UNO-Pakt I dürfen einmal erreichten Standards in der Sozialhilfe nicht zurückgenommen werden. Zudem stehen in der Politik immer wieder verstärkte Sanktionierungen der Sozialhilfebezüger*innen zu Debatte. Diskurse, welche nicht zuletzt in der Öffentlichkeit stigmatisierende Bilder von arbeitsunwilligen Leistungsbezüger*innen reproduzieren.

Der konzeptuelle Aufbau der Sozialhilfe – basierend auf dem Grundprinzip der Aktivierung – trägt zudem implizite Ideen von selbstverschuldeter Armut in sich. Dabei werden mögliche gesellschaftliche und soziale Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt – wie Diskriminierung aufgrund von Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Gesundheit oder sexueller Orientierung – nicht berücksichtigt. Auch strukturelle Veränderungen des Marktes – wie der Rückgang offener Stellen für bestimmte Ausbildungsstufen – werden vernachlässigt. Schliesslich wird Menschen, welche überdurchschnittlich häufig auf Sozialhilfe angewiesen sind – so etwa Frauen, ältere Personen oder Menschen mit Behinderungen – die Teilnahme am Erwerbsleben bereits durch strukturelle Faktoren erschwert. Als Sozialhilfebezüger*innen sind sie deshalb einer  Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt.

Die fehlende gerichtliche Einklagbarkeit der Sozialrechte in der Schweiz, der grosse kantonale Ermessensspielraum und die fehlende Berücksichtigung strukturell und institutionell diskriminierender Faktoren führt letztlich zu einer massiven Benachteiligung von Menschen, welche auf Sozialhilfe angewiesen sind. Damit verletzt die Schweiz ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen aus UNO-Pakt I und übergeht die Empfehlungen des Überwachungsausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

Weitere Quellen