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Das Recht auf Leben im Freiheitsentzug

16.05.2022

Todesfälle in Justizvollzugseinrichtungen stellen eine zentrale menschenrechtliche Herausforderung dar – vor allem wenn sie mit den Haftbedingungen in Zusammenhang stehen. Das Recht auf Leben verpflichtet den Staat, neben der optimalen medizinischen Behandlung von gesundheitlich gefährdeten Gefangenen schädliche Strukturen im Freiheitsentzug zu beheben und aussergewöhnliche Todesfälle sorgfältig und umfassend aufzuarbeiten.

Todesfälle unter Gefangenen sind zwar selten, aber nicht aussergewöhnlich: Jedes Jahr sterben zwischen 10 und 30 Personen in schweizerischen Vollzugseinrichtungen. Fast die Hälfte davon sind auf einen Suizid zurückzuführen, weshalb diese Todesursache im Zentrum des vorliegenden Artikels steht.

Wenn Gefangene sterben, ist dies ein tragisches Ereignis für deren Familien und Freunde. Das gilt besonders dann, wenn der Tod durch Gewalteinwirkung oder gesundheitsschädigende Haftbedingungen bedingt zu sein scheint. Auch für den Rechtsstaat ist es einschneidend, wenn ein fürsorgebedürftiger Mensch unter seiner Aufsicht zu Tode kommt. Denn indem er Menschen die Freiheit entzieht, übernimmt der Staat die Verantwortung, deren Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen.

Stirbt eine gefangene Person unter aussergewöhnlichen Umständen, sind die Behörden gemäss dem Recht auf Leben nach Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) dazu verpflichtet, den Todesfall umfassend zu untersuchen und unter Einsatz aller notwendiger Ressourcen geeignete Massnahmen zu treffen, um in Zukunft ähnliche Todesfälle zu verhindern.

Das Recht auf Leben

Das Recht auf Leben, welches auch die körperliche und geistige Unversehrtheit umfasst, ist in Artikel 10 der Bundesverfassung, Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 6 des UNO Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II) verankert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat den Anwendungsbereich auch auf Fälle ausgedehnt, in denen eine Person lebensbedrohliche Verletzungen erleidet (vgl. Urteil Lopes de Sousa Fernandes gegen Portugal). Als Beispiel sei hier der Fall der aktenkundig suizidalen Person erwähnt, die im Mai 2021 ihre Zelle im Regionalgefängnis Biel in Brand gesetzt und dabei schwere Verbrennungen erlitten hatte.

Menschen im Freiheitsentzug befinden sich in einer besonders verletzlichen Situation, woran der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall S.F. gegen die Schweiz explizit erinnert hat. Diese ergibt sich namentlich daraus, dass der Freiheitsentzug zu psychischen Erschütterungen bei den Gefangenen und damit zu einem Suizidrisiko führen kann (Vgl. Urteil Tanribilir gegen Türkei). Hinzu kommt, dass die Gefängnispopulation bereits vor der Inhaftierung ein weitaus höheres Suizidrisiko aufweist als der Rest der Gesellschaft, wie Jerome Endrass und Thomas Noll in einer Analyse zu Suiziden im Gefängnis hervorheben. Die Behörden haben vor diesem Hintergrund eine besondere Fürsorge- und Schutzpflicht: Sie müssen gemäss dem UNO-Menschenrechtsausschuss ausreichend Präventionsmassnahmen ergreifen, um das Risiko von Gewalt durch Mitgefangene oder Gefängnispersonal sowie dasjenige von Selbstverletzungen und Suiziden zu minimieren (CCPR/C/GC/36, Ziff. 25). Dies gilt insbesondere bei Gefangenen mit psychischen Vorbelastungen (Renolde gegen Frankreich, § 84). Zusätzlich zur Prävention beinhaltet das Recht auf Leben eine staatliche Untersuchungspflicht, welche auch eine präventive Bedeutung hat: Um Todesfälle und Verletzungen in Zukunft zu verhindern, braucht es eine gründliche Analyse des Gewahrsamsortes und seiner Funktionsweise.

Die Gefangenen wiederum haben das Recht auf Haftbedingungen, die mit der Menschenwürde vereinbar sind. Dies ergibt sich neben dem Recht auf Leben auch aus dem Verbot der unmenschlichen Behandlung nach Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Auch die fortdauernde Haft von Menschen, die an einer schweren Krankheit leiden, die schwerstbehindert oder fortgeschrittenen Alters sind, kann gemäss dem Europäischen Folterausschuss (CPT) unerträgliche Situationen im Sinne von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) schaffen. Gemäss einem Kommentar des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte dürfen die Haftbedingungen zudem keinesfalls so gestaltet sein, dass das erzeugte Leiden über das Mass an Leiden hinausgeht, welches unvermeidbar mit dem Freiheitsentzug zusammenhängt (Guide on Right to life, Ziff. 52). Darüber hinaus muss neben der Gesundheit auch das allgemeine «Wohlbefinden» der Gefangenen angemessen gesichert sein (Dzieciak gegen Polen, § 91). Das schweizerische Strafgesetzbuch verlangt schliesslich einen Strafvollzug, der das soziale Verhalten der Gefangenen fördert, dem Normalleben so weit wie möglich entspricht und schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs entgegenwirkt (Artikel 75 StGB).

Suizid in Gefangenschaft

Am Morgen des 5. August 2019 erhält die Mutter von Raphael K. eine Nachricht vom Inselspital Bern. Raphael liege auf der Intensivstation. Er habe sich in einer forensischen Spezialstation erhängt. Am nächsten Tag wird das Beatmungsgerät abgeschaltet. Raphael stirbt mit nur 25 Jahren.

Wie eine Liste von bekannt gewordenen Fällen der vergangenen Jahre zeigt, ist Raphael kein Einzelfall. Sein Tod wirft vielmehr ein Licht auf problematische Grundstrukturen: In der Schweiz ist die Suizidrate bei Gefangenen (S. 113) fast zwölfmal so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung. Damit befindet sie sich auch im internationalen Vergleich am Limit: Verschiedene Studien und Erhebungen zeigen, dass die Suizidrate bei Gefangenen weltweit durchschnittlich drei- bis zwölfmal so hoch ist wie die der Allgemeinbevölkerung. Im Jahr 2020 wurde die Schweiz vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zudem bereits wegen eines Suizids im Freiheitsentzug verurteilt (S.F. gegen die Schweiz). In seinem Entscheid vom 30. Juni 2020 kam der Gerichtshof zum Schluss, dass die beteiligten Beamten es unterlassen hatten, effektive Massnahmen zum Schutz des Lebens zu ergreifen und die Schweiz ihre Untersuchungspflicht verletzt hat.

Weitere Todesursachen im Freiheitsentzug

Neben Suiziden gibt es auch andere Todesfälle, die als Anzeichen ungenügender Fürsorge seitens der Justizvollzugsbehörden diskutiert werden. So etwa wenn Gewalt durch Mitgefangene oder das Gefängnispersonal unmittelbar zu schweren Verletzungen oder zum Tod führt, wobei derartige Fälle in der Schweiz nicht bekannt sind. Häufiger sind hingegen Fälle, in welchen dem Personal oder Ärzt*innen vorgehalten wird, notwendige Massnahmen zur Rettung des Lebens von Gefangenen unterlassen zu haben. Dies kann neben Suiziden auch Fälle betreffen, wo der Tod nicht selbst herbeigeführt wurde. Zu nennen ist hier etwa der Fall von Kilian S., der 2018 allein in einer Polizeizelle verstarb. Der verantwortliche Notfallarzt hatte ihn als hafterstehungsfähig eingestuft. Bei der Vernehmung durch die Polizei erklärte er, dass er den Festgenommenen aus Ressourcengründen «nicht leichtsinnig ins Spital schicke» [sic]. Die Obduktion Kilians ergab, dass sein Tod höchst wahrscheinlich infolge eines Drogenkonsums eintrat. Aus menschenrechtlicher Sicht ist festzuhalten, dass der Schutz des Lebens immer oberste Priorität haben muss und unter keinen Umständen hinter Ressourcenüberlegungen zurücktreten darf.  

Als weitere aussergewöhnliche Todesursache ist der begleitete Suizid zu nennen, welcher in Zukunft an Bedeutung gewinnen dürfte. Insbesondere für verwahrte Menschen nach Artikel 64 Strafgesetzbuch (StGB) stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwiefern der Todeswunsch mit den Haftbedingungen in Zusammenhang steht. Menschen in einer Verwahrung haben ihre Strafe abgesessen und sind einzig zum Schutz der Öffentlichkeit eingesperrt. Gemäss dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte muss sich der Verwahrungsvollzug wesentlich vom Strafvollzug unterscheiden und deutlich freiheitsorientierter ausgestaltet sein (Vgl. Urteil M. gegen Deutschland). Wenn sich verwahrte Personen wie Peter Vogt überlegen, mittels assistiertem Suizids aus dem Leben zu scheiden, müssen die Behörden deshalb prioritär prüfen, ob die Haftbedingungen gelockert werden könnten. Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Justizvollzug schreibt in einem Grundlagenpapier zum Thema, es sei «einlässlich (zu) prüfen, ob sich das Leiden der sterbewilligen Person nicht zum Beispiel durch angepasste Unterbringungsbedingungen […] so weit mindern lässt, dass der oder die Betroffene von seinem/ihrem Sterbewunsch absieht».

Nebst den «aussergewöhnlichen» Todesfällen und Verletzungen gibt es auch Menschen, die im Justizvollzug betagt oder schwerkrank werden und eines sogenannt «natürlichen Todes» sterben. Der Umgang mit diesen Menschen gewinnt vor dem Hintergrund einer alternden Gefangenpopulation zunehmend an Bedeutung. In Bezug auf das Recht auf Leben darf hierbei nicht gänzlich ausser Acht gelassen werden, inwiefern die zuvor bestehenden Haftbedingungen mit der identifizierten Todesursache in Zusammenhang stehen. Ob ein Todesfall als «natürlich» eingestuft werden darf, ist nämlich nicht immer offenkundig und beruht regelmässig auf einer Interpretation durch Polizei oder Staatsanwaltschaft.  

Risikofaktoren im Freiheitsentzug

Viele verschiedene Faktoren wirken sich direkt oder indirekt auf die Sicherheit der Inhaftierten sowie auf ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden aus und können damit ebenso Suizide begünstigen. Das Internationale rote Kreuz listet in einer Richtlinie eine Reihe solcher Faktoren auf (ICRC-Guidelines Ziff. 4). Hierzu gehören stressige und menschenunwürdige Haftbedingungen. Zu diesem Schluss kommt auch der UNO-Generalsekretär in einem Bericht von 2019: «unzureichende Haftbedingungen können ein Faktor sein, der zu Todesfällen und schweren Verletzungen in der Haft beitragen». Zu Faktoren wie der Infrastruktur, Zellenbelegung, Arbeitsbedingungen, Kontakt zu Angehörigen oder dem Zugang zu frischer Luft kommt auch der Verlust der Möglichkeit, sein Leben selbst zu gestalten. Die Beratungspraxis von humanrights.ch zeigt, dass sich die ratsuchenden Personen in Bezug auf ihre Lebensgestaltung oftmals machtlos und ausgeliefert fühlen. Speziell in geschlossenen Anstalten verlieren sie jegliche Kontrolle über ihr Leben: Von der Zelleneinteilung übers morgendliche Wecken bis hin zur Frage, welche Nahrung sie zu sich nehmen oder mit welchen Menschen sie ihre Zeit verbringen – beinahe die gesamte Lebensgestaltung wird von aussen vorgegeben und es entsteht ein Gefühlt der Machtlosigkeit; ein Empfinden, das gemäss wissenschaftlichen Untersuchungen von Dacher Keltner zu Stress und Depressionen und damit zu einem erhöhten Suizidrisiko führen kann.

Gewalt im Gefängnis als Stressfaktor

Auch im zwischenmenschlichen Bereich bestehen Stress- und Risikofaktoren für die Gesundheit der Gefangenen. Gewalt zwischen Gefangenen gehört in vielen Vollzugseinrichtungen zum Alltag. Eine Untersuchung aus Österreich kommt zum Schluss, dass Gefangene regelmässig sexuell missbraucht oder von Zellengenossen misshandelt werden: «Die Bandbreite der Erfahrungen reicht von leichteren Formen psychischer Gewalt, wie aggressivem Anschreien, über Tritte und Schläge bis hin zur Vergewaltigung», so die Studienleiterin Dr. Veronika Hofinger. Gewalt durch Mitgefangene dürfte auch in Schweizer Vollzugseinrichtungen eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Gesundheit der Gefangenen spielen.

Gewalt und Stress können aber auch vom Gefängnispersonal ausgehen. Dies etwa durch eine missbräuchliche, diskriminierende Behandlung oder Vernachlässigung der Gefangenen bis hin zu unmenschlicher Behandlung oder Folter. Die Gefahr der der Misshandlung von Gefangenen ist gemäss dem internationalen roten Kreuz strukturell bedingt besonders gross, weil die Institutionen des Freiheitsentzugs gewöhnlich ausserhalb des Blickfelds der Öffentlichkeit und ohne externe Überwachung operieren. In der der österreichischen Untersuchung berichteten 45 Prozent der Befragten von psychischer Gewalt durch das Personal. Fokussiert man auf potenziell strafrechtlich relevante, schwerere psychische Gewalt, reduziert sich der Anteil derer, die das Personal als Gewaltausübende nennen, auf acht Prozent. In der Schweiz existiert keine vergleichbare Studie.

Einsamkeit und Einzelhaft

Ein anderes zentrales Gesundheits- und Suizidrisiko ist die Einsamkeit. Wenn dieser Zustand monatelang anhält, können die Folgen schwerwiegend sein. Zu den Symptomen gehören eine erhöhte Müdigkeit, Konzentrationsmangel, die Entwicklung von Schizophrenie, Reizbarkeit, Grübeln oder Rückzug. Eine besonders problematische Form der sozialen Deprivation ist die Praxis der Einzelhaft, also die Isolation von Gefangenen während mindestens 22 Stunden am Tag. Die krank machenden Auswirkungen von Einzelhaft sind sehr gut erforscht. Sie umfassen gemäss der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Angst, Panikattacken, Depression, Ärger, rasende Wut, Wahrnehmungsstörungen bis hin zur totalen Konfusion, Sinnesstörungen, Halluzinationen, Paranoia, Psychose, Selbstverletzung und Suizid. Die Praxis der «Langzeit-Einzelhaft» - eine mehr als 15 aufeinanderfolgende Tage andauernde Einzelhaft – ist durch die Nelson Mandela Regeln absolut verboten (Regel 43). Trotzdem wird diese gesundheitsschädigende Praxis in der Schweiz nach wie vor regelmässig und teilweise während Monaten oder Jahren angewendet – sei es im Strafvollzug als Disziplinar- oder Sicherheitsmassnahme oder in der Untersuchungshaft. Der UNO-Sonderberichterstatter Nils Melzer hatte die Schweiz im Fall Brian für diese Praxis besonders scharf kritisiert: «Jede Überschreitung der 15 Tage verletzt das Misshandlungsverbot», so Melzer. Entgegen einem in der Schweiz vorherrschenden Irrtum beziehe sich dieses Verbot nicht nur auf «Isolationshaft», bei der die Sinneswahrnehmung gezielt beeinträchtigt wird (sensory isolation), sondern ausdrücklich auf jede Form der Einzelhaft (solitary confinement). Also auf jede Absonderung des Gefangenen für mindestens 22 Stunden pro Tag ohne wirklichen zwischenmenschlichen Kontakt.

In Bezug auf den Schutz des Lebens besonders problematisch ist die Einzelhaft in der Untersuchungshaft, da die soziale Deprivation mit den ohnehin äusserst belastenden Umständen einer Strafuntersuchung zusammentrifft. Obwohl sie als unschuldig gelten (Art. 10 StGB) werden die Menschen einer massiv gesundheitsschädlichen Umgebung ausgesetzt. Die Suizidrate in U-Haft fällt denn auch deutlich höher aus als im Strafvollzug.

Ungenügende psychiatrische Versorgung

Todesfälle und Suizide im Freiheitsentzug können auch Folge einer ungenügenden medizinischen Versorgung sein. Während im Bereich der körperlichen Gesundheit zumindest die Notfallmedizin in der Schweiz grundsätzlich sichergestellt ist, stellt die psychische Gesundheit der Gefangenen eine besondere Herausforderung für den Freiheitsentzug dar. Als Risiko zu nennen sind namentlich die mangelnde Ausbildung des Gefängnispersonals in Bezug auf den psychischen Gesundheitszustand von Gefangenen sowie die unzureichende Anzahl von Psycholog*innen und Psychiater*innen, beziehungsweise die fehlenden zeitlichen Ressourcen pro gefangener Person (Bericht des UNO-Hochkomissars, Ziff. 28). Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) stellte in diesem Bereich Handlungsbedarf fest und legte den Behörden einen angemessenen Zugang zu einem therapeutischen Angebot nahe. Ein besonderes Augenmerk gilt etwa den Gefangenen mit einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. Hier fehlt es gemäss dem Rechtspsychologen Klaus Mayer an spezialisierten Institutionen mit entsprechenden Vollzugsangeboten. Zur Verbesserung der Gesamtsituation hat das Kompetenzzentrum für Justizvollzug 2022 ein Handbuch zur psychiatrischen Grundversorgung im Freiheitsentzug publiziert.

Mangel an sozialer Unterstützung

Die Ressourcen, welche innerhalb der Gefängnismauern zur Verfügung stehen, um die erwähnten Stressfaktoren abzufedern, sind begrenzt. Einen ausserordentlich hohen Stellenwert hat hierbei die wahrgenommene soziale Unterstützung («perceived social support»), insbesondere durch die Angehörigen. In einer Metanalyse von 77 Studien aus 27 verschiedenen Ländern wurden insgesamt 35’000 Fälle von Suiziden in Gefängnissen aus den Jahren 2007 bis 2020 miteinander verglichen. Es stellte sich heraus, dass einer der ausschlaggebendsten Faktoren der Mangel an wahrgenommener sozialer Unterstützung ist. Die psychische Gesundheit von Gefangenen steht demnach in direktem Zusammenhang mit ihren Möglichkeiten, Beziehungen zu ihren Angehörigen zu pflegen. Raphael K. hatte schon vor seinem Tod vier Suizidversuche hinter sich, ohne dass die Eltern etwas davon erfahren hätten. Kurz vor seinem Tod wurde den Eltern der Besuch verweigert mit der Begründung, dass es Raphael zu schlecht gehe. Der Vater – ein ehemaliger Hausarzt – sagt dazu: «Wenn es einem Menschen so schlecht geht, dann müssten die Angehörigen doch als Ressource miteinbezogen werden. Wir wurden von der psychiatrischen Klinik aber nie für ein Gespräch eingeladen». Kürzlich hat ein Waatländer Gericht die Verlegung eines Gefangenen abgelehnt, der durch diesen Wechsel näher bei seinen Angehörigen gewesen wäre. Dies obwohl er bereits einen Selbstmordversuch hinter sich hat und die Verlegung das Risiko für einen erneuten Versuch veringern könnte. Das Bundesgericht wird sich nun mit der Beschwerde des Gefangenen befassen müssen.

Die unabhängige und wirksame Untersuchung

Das Recht auf Leben verpflichtet die Staaten, lebensbedrohliche Verletzungen sowie aussergewöhnliche Todesfälle unabhängig und wirksam zu untersuchen. Diese Pflicht besteht unabhängig davon, ob die Angehörigen der verstorbenen Person dies wünschen. Auf dem Spiel steht gemäss dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht weniger als das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Gewaltmonopol des Staates (Guide on Right to life, Ziff. 152).  

Unabhängig ist eine Untersuchung nur, wenn zwischen der Untersuchungsbehörde und der potenziell für den Tod verantwortlichen Behörde keine enge Arbeitsbeziehung besteht (Ziff. 156). Damit eine Untersuchung wirksam ist, braucht es eine «gründliche, objektive und unparteiischen Analyse aller relevanten Elemente» (Ziff. 162). Mit der Feststellung der Untersuchung der «Todesursache» (Ziff. 130) sind nicht nur die unmittelbar medizinischen Gründe gemeint. Vielmehr gehört hierzu auch eine Untersuchung der Behandlung, die dem Verstorbenen vor dem Tod zuteil wurde (Ziff. 55). Die Beweislast liegt hier bei den Behörden: Wird eine Person bei guter Gesundheit in Gewahrsam genommen und bei ihrer Entlassung verletzt angetroffen, so obliegt es dem Staat, eine plausible Erklärung dafür zu liefern, wie diese Verletzungen verursacht wurden (Urteil Blokhin gegen Russland, Ziff. 140). Besonders streng ist die staatliche Rechenschaftspflicht, wenn jemand stirbt (Guide on Right to Life, Ziff. 117). Wie eine Untersuchung im Detail aus menschenrechtlicher Sicht aussehen sollte, beschreibt die UNO in ihrem «Minnesota-Protokoll zur Untersuchung eines möglicherweise unrechtmässigen Todes».

Wenn Todesfälle in Schweizer Vollzugseinrichtungen untersucht werden, geschieht dies in der Form einer Strafuntersuchung. In der Praxis stellen sich verschiedene Hürden in Bezug auf die Wirksamkeit dieser Untersuchungsform. Das grösste Problem in Bezug auf das Erfordernis einer gründlichen, objektiven und unparteiischen Analyse aller relevanten Elemente besteht darin, dass die Strafuntersuchung in vielen Fällen – genau wie bei polizeilichem Fehlverhalten – überhaupt gar nicht erst eingeleitet wird. Dies hängt damit zusammen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft bei der Frage, ob Hinweise auf einen aussergewöhnlichen Tod im Sinne von Artikel 253 Strafprozessordnung bestehen, ein grosses Ermessen zusteht. Überdies kann die Staatsanwaltschaft die Untersuchung jederzeit einstellen, wenn keine Hinweise auf eine Straftat bestehen (Art. 253 Abs. 2). Es kann vorkommen, dass Suizide spontan als Zeichen für eine fehlende Straftat gedeutet werden und auf eine vertiefte Untersuchung der Begleitumstände verzichtet wird. Strafverfahren gegen Mitarbeitende von Behörden und Institutionen sind auch gemäss erfahrenen Strafverteidiger*innen selten und werden in der Regel nur dann eröffnet, wenn entweder Strafanzeige eingereicht wird oder offensichtlich ein massives behördliches Fehlverhalten vorliegt.

Ein weiteres Hindernis besteht darin, dass Angehörige von Verstorbenen regelmässig nicht als «Partei» anerkannt werden. So etwa in den Fällen von Raphael K. und Kilian S. Erst das Obergericht stellte fest, dass Raphaels Eltern, bzw. Kilians Mutter, als Partei am Strafverfahren teilnehmen dürfen. Im Fall S.F. gegen die Schweiz hielt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass der Einbezug der Angehörigen der Verstorbenen an der Untersuchung ein wichtiger Parameter für eine wirksame Untersuchung darstellt. Weiter kommt es vor, dass die unentgeltliche Rechtspflege verweigert wird – so etwa im erwähnten Brandfall des Regionalgefängnisses Biel, wo der Person ein Rechtsbeistand trotz schwerer Verletzungen erstinstanzlich verwehrt wurde. Schliesslich stellt der enge Fokus der Strafuntersuchung ein Problem dar: Sie beschäftigt sich in erster Linie damit, ob eine konkrete Person vorsätzlich oder fahrlässig eine Straftat begangen und den Tod unmittelbar herbeigeführt hat. Nicht erfasst werden hingegen die strukturellen und institutionellen Bedingungen, welche für den Tod mitursächlich sein können.

Eine wirksame Untersuchung im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention muss demgegenüber zwingend den Blick auf alle relevanten Elemente, welche mit dem Tod in Zusammenhang stehen können, frei geben. Je präziser die Bedingungen betrachtet werden, die am Ende zum Tod oder zur Verletzung eines*einer Gefangenen geführt haben, desto grösser ist die Chance, dass weitere ähnliche Fälle in Zukunft verhindert werden können.

Massnahmen zur Verhinderung von Todesfällen im Freiheitsentzug

Todesfälle in Einrichtungen des Freiheitsentzugs werden meistens in Form von kurzen Polizeimeldungen abgehandelt: «Untersuchungshäftling (†46) tot in Zelle aufgefunden», «Mann bei Brand in Regionalgefängnis Biel BE schwer verletzt», «Gefängnisinsasse (Schweizer, †67) begeht Suizid» lauten einige der Schlagzeilen aus dem Jahr 2021, die humanrights.ch in einer Übersichtsliste zusammengetragen hat. Die Geschichten dahinter bleiben im Dunkeln: Wie genau kam es zu diesen Todesfällen? Welche Rolle spielten die Haftbedingungen und das Klima innerhalb der Institutionen oder die Entscheide von Vollzugsbehörden? Waren die Personen medizinisch vorbelastet? Wurden die Angehörigen miteinbezogen in die Prävention von Suiziden und deren Aufarbeitung?

Um diese und weitere Fragen zu beantworten, bräuchte es abgesehen von nackten Statistiken dringend eine systematische sozialwissenschaftliche Untersuchung zu Todesfällen in Schweizer Vollzugseinrichtungen durch unabhängigen Wissenschaftler*innen. Ein entsprechender parlamentarischer Vorstoss durch eine*n Politiker*in wäre wünschenswert. Hierbei müssten Mechanismen und Funktionsweisen der Institutionen sowie Entscheide der Vollzugsbehörden als mögliche Ursachen für Verletzungen und Todesfälle mitberücksichtigt werden. Haftbedingungen, die über das mit dem Freiheitsentzug verbundene Leid hinausgehen, müssten analysiert und darauf basierend Massnahmen zur Verbesserung der Situation ergriffen werden. Insbesondere müssen innerhalb der Institutionen klare Prozeduren festgelegt werden, um aus den Todesfällen zu lernen.

Es liegt auf der Hand, dass besonders gefährdende Haftregimes wie die Untersuchungshaft oder die Einzelhaft nur noch in absoluten Ausnahmefällen angeordnet werden dürften. Dies ist nicht nur ein gesundheitliches, sondern auch ein rechtliches Gebot, welches sich aus dem Verhältnismässigkeitsprinzip von Artikel 5 der Bundesverfassung ergibt. Ebenfalls aus diesem zentralen rechtstaatlichen Grundsatz folgt, dass Gefangene, wenn immer möglich, in offenen Vollzugseinrichtungen unterzubringen sind. Dies ergibt sich auch aus Artikel 76 Strafgesetzbuch, der die Unterbringung in geschlossenen Einrichtungen explizit als Ausnahme definiert. Im Widerspruch dazu befinden sich aktuell drei von vier verurteilten Gefangenen in einem geschlossenen Setting, wo der Verlust der Gestaltungsmöglichkeiten in Bezug auf das eigene Leben und der damit einhergehende Stress besonders ausgeprägt sind. Bei Schwerkranken oder Menschen mit Behinderungen müssen alternative Vollzugsregimes im Sinne von Artikel 80 Strafgesetzbuch geschaffen und regelmässiger angewendet werden. Zudem ist ein Vollzug abzubrechen, wenn die nötige Pflege und Heilung nicht gewährleistet werden können (Art. 92 StGB). Die Gesundheit und der Schutz des Lebens von Gefangenen muss im Rahmen der Verhältnismässigkeit dem abstrakten öffentlichen Interesse am Freiheitsentzug vorgehen. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen – insbesondere aus dem schizophrenen Formenkreis – sowie für betagte Menschen müssen mehr spezialisierte Institutionen geschaffen werden.

In Fällen dieser Art ist es zudem Sache des medizinischen Personals im Gefängnis, der verantwortlichen Stelle Bericht zu erstatten, damit geeignete Vorkehrungen getroffen werden können. Der Fall von Raphael K. wirft die Frage auf, ob Gefängnisärzt*innen über die nötige Zusatzausbildung und die nötige Unabhängigkeit verfügen, um sich solche Fragen überhaupt stellen zu können. Ausserdem kann infrage gestellt werden, ob sie ihr Ermessen wirklich immer dazu nutzen, die Gesundheit der Gefangenen bestmöglich zu schützen: Raphael K. befand sich trotz einer diagnostizierten paranoiden Schizophrenie während rund sieben Monaten in Einzelhaft, 23 Stunden am Tag in der Zelle eingesperrt. Die Eltern durfte er während dieser Zeit nur hinter einer Trennscheibe sehen. Erst als sich sein Zustand massiv verschlechterte, wurde er in die Gefängnisstation eines Spitals verlegt. Innerhalb der Vollzugseinrichtungen muss die psychiatrische Gesundheitsversorgung auf der Grundlage des SKJV-Handbuchs verbessert werden. Eine Symptombehandlung mit Psychopharmaka ist hierzu ungenügend, so die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter in ihrem Bericht zur Gesundheitsversorgung: Stattdessen müssten niederschwellige Gesprächs- und Therapiemöglichkeiten mit psychiatrischen bzw. psychologischen Fachpersonen geschaffen werden.

Ein wichtiges Element zur Suizidprävention ist die Stärkung des Kontakts zu den Angehörigen: Gefangene müssen ihre Familienbeziehungen gemäss den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen «so normal wie möglich» pflegen können (Ziff. 24.4). Dies ist laut den Empfehlungen des Europäischen Antifolterausschusses (CPT) etwa dann nicht gewährleistet, wenn die Besuche in Einzelkabinen mit Trennscheibe durchgeführt werden müssen (Ziff. 185). Auch gemäss Bundesgericht (BGE 122 II 289, E. 6a) sind Besuche mit Trennscheibe nur dann zulässig, wenn konkrete Anhaltspunkte für die Gefahr von Drogendelikten oder andere Sicherheitsrisiken bestehen. Ausserdem müssen die Gefangenen wenn immer möglich in Vollzugseinrichtungen in der Nähe ihrer Angehörigen untergebracht werden. In Krisensituationen wie bei Raphael K. sollten die nächsten Angehörigen als Ressource zur Suizidprävention miteinbezogen werden. Voraussetzung hierfür ist, dass die Institutionen bei Haftbeginn die Notfallnummern von allen inhaftierten Personen abfragen.

Abgesehen von den Haftbedingungen muss auch die Schweizer Praxis der Untersuchung von Todesfällen in Einklang mit dem Recht auf Leben nach Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention gebracht werden. Für alle Todesfälle, bei denen ein Verdacht auf Gewalteinwirkung besteht, sollte die forensische Obduktion unter Anwendung des «Minnesota-Protokolls» durchgeführt werden. Nur durch systematische, ergebnisoffene und umfassende Untersuchungen im Einzelfall können die Behörden weitere Todesfälle wie diejenigen von Raphael K. oder Kilian S. verhindern. Dass hier momentan eine grosse Lücke klafft, ist spätestens seit der Verurteilung der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Fall S.F. gegen die Schweiz offensichtlich: Der Gerichtshof hatte hier festgehalten, dass die Untersuchung weder unabhängig, noch wirksam im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention war.  Bei Todesfällen im Freiheitsentzug müsste der Staat abgesehen von einer möglichen Strafuntersuchung standardmässig eine verwaltungsrechtliche Untersuchung einleiten, die zu klären hätte, ob er – der Staat – infolge menschenrechtswidriger Haftbedingungen oder Handlungen von Beamt*innen für den Todesfall verantwortlich ist.

Wie bei polizeilichem Fehlverhalten bräuchte es schliesslich auch im Freiheitsentzug spezialisierte Staatsanwaltschaften, die von der Polizei, den regulären  Staatsanwaltschaften und den Justizbehörden effektiv unabhängig sind. Die Einrichtung von unabhängigen Beschwerdestellen für den Freiheitsentzug wäre ein weiteres Instrument, um problematische Muster frühzeitig zu erkennen, Untersuchungen durchzuführen und Suizide und andere aussergewöhnliche Todesfälle zu verhindern. Neben den nationalen Präventionsmechanismen zur Verhinderung von Folter müssen hierzu auch unabhängige Nichtregierungsorganisationen Zugang zu allen Haftanstalten haben. Auch im Rahmen eines formell hochentwickelten Rechtssystems wie jenem der Schweiz braucht es noch viel Arbeit, um dunkle Ecken wie den Tod im Freiheitsentzug auszuleuchten und unnötige Todesfälle in Gefangenschaft zu verhindern.