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Gewaltprävention – ein Übungsfeld für den Überwachungsstaat

13.09.2018

Die Schweiz befindet sich im Übergang zur Sicherheitsgesellschaft. Das trügerische Ideal dieser Entwicklung ist das Nullrisiko; die neue Wunderwaffe ist die auf Algorithmen beruhende Gefährlichkeitsprognose, und der neue negative Held heisst «Gefährder».

Auf welchen Bühnen spielte und spielt sich dieser Wandel ab? Zuerst einmal im abgekapselten Bereich der Strafjustiz und des Straf- und Massnahmenvollzugs. An zweiter Stelle folgte die präventive Eindämmung von privater oder politischer Gewalt in Form von Massnahmen gegen Hooligans, gegen häusliche Gewalt, gegen Querulanten und gegen politische Extremisten/-innen. Und die jüngste Welle betrifft die präventive Bekämpfung des islamistischen Terrorismus. Diese Schauplätze sind institutionell vernetzt und sie haben die Gemeinsamkeit, dass Randgruppen betroffen sind, denen eine breite gesellschaftliche Abneigung entgegenschlägt und die kaum über eigene Stimmen in der Öffentlichkeit verfügen.

Dieser von der Politik und der Verwaltung vorangetriebene Wandel ist rechtspolitisch gesehen äusserst fragwürdig, denn er durchlöchert verbindlich garantierte grundrechtliche Prinzipien wie das Recht auf ein faires Verfahren, den Schutz der Privatsphäre oder das Recht auf persönliche Freiheit.

Grundrechtswidrige Denkweisen und Praktiken werden im Bereich der Gewaltprävention zunehmend zur Normalität. Aus dieser Dynamik heraus zeichnen sich die Konturen einer präventiven Überwachungs- und Disziplinargesellschaft ab, welche alle Bürgerinnen und Bürger gleichermassen betrifft und den Rechtsstaat in zentralen Belangen ausser Kraft setzt.

Der Straf- und Massnahmenvollzug als Versuchslabor

Seit jeher werden die forensischen Psychiater/innen sowohl im Strafprozess wie auch im Strafvollzug mit Gutachten beauftragt, welche unter anderem auch Aussagen über die künftige Entwicklung und insbesondere das Rückfallrisiko eines Täters oder einer Täterin beinhalten. Doch diese Prognosen waren früher ein untergeordnetes Element in einer gesamthaften Beurteilung der Persönlichkeit. Dies hat sich in den letzten 20 Jahren radikal geändert.

Gefährlichkeitsprognosen

Heute spielen die mit standardisierten Instrumenten erstellten Gefährlichkeitsprognosen in den forensisch-psychiatrischen Gutachten eine zentrale Rolle. Den Prognoseinstrumenten ist gemeinsam, dass sie auf der Grundlage einer vordefinierten Eingabe an delikt-, täter- und umweltbezogenen Daten ein Persönlichkeitsprofil des Straftäters oder der Straftäterin erstellen. Dieses wird vom Instrument mit statistisch ermittelten Risiko-Profilen abgeglichen. Das Resultat ist eine quantifizierte Einstufung der Gefährlichkeit des untersuchten Subjekts. Wer bestimmte statistische Vorgaben erfüllt, gilt als wahrscheinlicher künftiger Gewalttäter.

Die Karriere der «objektivierten», von Algorithmen gesteuerten Gefährlichkeitsprognose ist in der deutschsprachigen Schweiz mit der Galionsfigur Frank Urbaniok verknüpft, der von 1997 bis 2018 als Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes (PPD) im Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich wirkte und den öffentlichen Diskurs zum Straf- und Massnahmenvollzug massgeblich mitgeprägt hat. Seine immer gleiche Botschaft lautet, dass eine enge forensisch-psychiatrische Überwachung und deliktbezogene Therapie von Straf- und Massnahmengefangenen in Verbindung mit «objektiven» Prognoseinstrumenten es erlauben würde, das Rückfallrisiko von Straftätern-/innen erheblich zu minimieren, – sei es durch eine gelingende Therapie oder durch ein Wegsperren ohne Ende. Das passende Prognoseinstrument FOTRES entwickelte und vermarktete Urbaniok gleich selbst mit seiner Privatfirma Profecta AG. Es ist heute eines der gebräuchlichsten Prognoseinstrumente im Deutschschweizer Straf- und Massnahmenvollzug.

Innert weniger Jahre ist die Risikominderung bis hin zur Null-Risiko-Strategie zum Leitwert der Justizvollzugsbehörden geworden. Im Zweifelsfall werden betroffene Insassen aufgrund von Gefährlichkeitsprognosen weggesperrt. Eine Massnahme nach Art. 59 StGB – eine „kleine Verwahrung“ – kann nur verhängt werden, wenn dem psychisch gestörten Täter eine hohe Rückfallgefahr attestiert wird. Diese Einschätzung wird im Rahmen eines psychiatrischen Gutachtens mittels einer Gefährlichkeitsprognose erstellt. Dasselbe gilt zum Beispiel für Entscheide über die Verlängerung einer kleinen Verwahrung um weitere 5 Jahre.

Risikoorientierter Sanktionenvollzug ROS

In naher Zukunft werden in der Deutschschweiz alle Insassen von Justizvollzugsanstalten beim Antritt ihrer Strafe auf ihre künftige Gefährlichkeit hin grob durchleuchtet. Dafür sorgt der Risikoorientierte Sanktionenvollzug, kurz ROS genannt. Dessen Kern ist eine Einteilung der verurteilten Straftäter/innen in drei Kategorien: A-Fälle gelten bezüglich einer Rückfallgefahr als unbedenklich, bei B-Fällen wird näher hingeschaut, während die C-Fälle einer eingehenden forensisch-psychiatrischen Risikoabklärung unterzogen werden.

Die Software, welche diese grobe Triage macht, heisst «Fall-Screening-Tool (FaST)». Es müssen nur einige Daten aus den Akten und dem Vorstrafenregister ins FaST eingegeben werden, und in 5 - 20 Minuten ist die Triage beendet. Laut einer Untersuchung von SRF Data wurden seit 2016 in Deutschschweizer Gefängnissen bereits 4'500 solche Triagen vorgenommen.

Die C-Fälle geraten danach unter ein forensisch-psychiatrisches Regime. Zuerst werden sie einer verfeinerten Risikoanalyse mit einem Prognoseinstrument wie FOTRES unterzogen. Die Software wird mit hunderten von Angaben aus den Akten des Täters gefüttert. «Darauf generiert sie automatisch Interventionsempfehlungen und Therapievorschläge. Eine sogenannte Risikoabklärung dauert in der Regel zwei Tage. Kostenpunkt: 3500 Franken.» (srf.ch vom 18.6.2018)

Die konkrete Ausgestaltung des Straf- oder Massnahmenvollzugs dieser C-Fälle bleibt dann unter der Kontrolle der forensisch-psychiatrischen Menschenverwalter. Die forensische Psychiatrie ist unter der Hand von einer Zudienerin der Justizbehörden zu einer mächtigen autonomen Instanz im Straf- und Massnahmenvollzug geworden.

Ab Ende 2018 soll der Risikoorientierte Sanktionenvollzug in der Deutschschweiz flächendeckend angewandt werden. Interessanterweise wehren sich die Westschweizer Kantone und der Tessin gegen die Methode, Risikoprognosen zu erstellen, ohne mit den betreffenden Personen je gesprochen zu haben.

Die gekappte Freiheit

Die Gefährlichkeitsprognose scheint ganz ähnlich wie die Wetterprognose zu funktionieren: Die Psychologen/-innen erheben viele personenbezogene Daten, sie formulieren statistische Gesetzmässigkeiten und Modelle der persönlichen Entwicklung im Hinblick auf die künftige Gewaltbereitschaft, und sie verknüpfen die Daten und die Modelle zu Prognosen der künftigen Gefährlichkeit einer Person.

Die naturwissenschaftliche Orientierung der forensischen Psychiatrie führt zwangsläufig dazu, den Menschen als ein nach statistischen Gesetzmässigkeiten funktionierendes Wesen zu objektivieren. In dieser Sichtweise können beim menschlichen Individuum aus seinen vergangenen und gegenwärtigen Taten zuverlässige Schlüsse auf kommende Handlungen gezogen werden.

Mit dieser Voraussetzung ignoriert die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie ein zentrales Merkmal des Menschen, das ihn so merkwürdig macht, nämlich die Dimension der Freiheit im Handeln. Gefährlichkeitsprognosen machen nur Sinn, wenn man die Freiheit des Menschen durch die Wahrscheinlichkeit von Handlungsorientierungen ersetzt. Dies ist ein Verstoss gegen die Menschenwürde.

Weil das gesamte Recht und insbesondere die Idee von Grund- und Menschenrechten auf der Voraussetzung der menschlichen Freiheit beruht, gibt es hier eine Unvereinbarkeit: Gefährlichkeitsprognosen dürften eigentlich in rechtlichen Kontexten keine entscheidende Rolle spielen. Das Gegenteil ist der Fall: Gefährlichkeitsprognosen haben immer mehr Gewicht bei rechtlich begründeten einschneidenden Massnahmen. Nebst dem Straf- und Massnahmenvollzug betrifft dies vor allem den Bereich der polizeilichen Gewaltprävention.

Kantonales Bedrohungsmanagement als Feldversuch

«Das behörden- und institutionsübergreifende kantonale Bedrohungsmanagement, meistens unter der Führung der Polizei, soll das Gefährdungspotenzial bei einzelnen Personen oder Gruppen frühzeitig erkennen, dieses einschätzen und schliesslich mit geeigneten Massnahmen entschärfen.» (Nationaler Aktionsplan Radikalisierung und Extremismus, Massnahme Nr. 14)

Identifizierung von «Gefährdern»

Im Kanton Zürich gibt es in Schulen, auf Gemeindeverwaltungen, bei den Strafbehörden, im Gesundheitswesen, bei der kantonalen Verwaltung, den KESB-Stellen, den Opferhilfe-Stellen und den Fachstellen gegen häusliche Gewalt etwa 400 «Ansprechpersonen», welche in einem Netzwerk der Kantonspolizei organisiert sind. Ihre Aufgabe ist es, selbst gemachte oder ihnen zugetragene Beobachtungen über ein bedrohliches Verhalten von beliebigen Klientinnen oder Klienten zu registrieren und eine erste Triage zu machen: Lässt sich der Fall intern regeln oder soll er der Fachstelle kantonales Bedrohungsmanagement (KBM) der Kantonspolizei gemeldet werden? Die Beobachtungen können sowohl explizite Gewaltandrohungen wie auch implizit wahrgenommene Bedrohungssituationen in sehr unterschiedlichen Bereichen wie häusliche Gewalt, verletzte Ehre, Stalking, querulatorisches Verhalten, Aufsässigkeit gegen Behörden, Drohungen am Arbeitsplatz oder in der Schule, politische Radikalisierung oder auch Dschihad-Sympathien betreffen.

Das Netzwerk der Ansprechpersonen wirkt wie ein Wahrnehmungsorgan für die Fachstelle KBM der Kantonspolizei. Wird dieser ein Fall gemeldet, so stellt sie zuerst einmal die verfügbaren Daten über die Zielperson zusammen. Ein Tandem aus polizeilichem Bedrohungsmanager und forensisch-psychiatrischer Fachperson schätzt danach die Gefährlichkeit der Zielperson weiter ein und erarbeitet ein entsprechendes Fallmanagement mit Interventionsempfehlungen. Dabei stützt es sich auf eine Software zur Gefährdererkennung (zum Beispiel Octagon oder Dyrias).

Octagon verlangt die Eingabe von einigen Dutzend differenzierten Einschätzungen und Angaben zu einer Person in acht Dimensionen wie allgemeine Persönlichkeitsmerkmale, psychische Vorbelastung, Vorstrafen, begangene Gewaltdelikte, aktuelles Problemverhalten etc. Bei diesen Angaben handelt es sich um Zuschreibungen von aussen, die nicht auf einer Befragung der Person beruhen, sondern auf Akteneinträgen und subjektiven Wertungen.

Massnahmen gegen «Gefährder»

Die Leitung des KBM-Teams, bestehend aus Vertretern/-innen der Kantonspolizei Zürich sowie den Stadtpolizeien Zürich und Winterthur, entscheidet auf der Grundlage der forensisch-psychiatrischen Empfehlung über die Aufnahme der begutachteten Person ins kantonale Gefährder-Register sowie über die gegenüber der Gefährderin zu treffenden Massnahmen.

Bei den Massnahmen kann es sich um polizeiliche verdeckte Vorermittlungen handeln, oder aber um sogenannte Gefährderansprachen, bei denen ein Angehöriger der Polizei den Gefährder oder die Gefährderin kontaktiert und das Gespräch sucht. Alleine die Fachstelle KBM der Kantonspolizei Zürich nimmt pro Jahr etwa 400 neue Fälle auf und macht ca. 300 Gefährderansprachen. Wer einmal im kantonalen Gefährder-Register ist, wird daraus für längere Zeit – man spricht von 10 Jahren – nicht mehr gelöscht.

Zwischenfazit

Im 2017 verfügten 11 Kantone über ein umfassendes eigenes Bedrohungsmanagement, zwei Kantone beschränken es auf häusliche Gewalt; acht weitere Kantone wollen ein KBM einführen, von ihnen drei beschränkt auf häusliche Gewalt. Gemäss Recherchen von SRF waren im 2017 über 3‘000 Personen als Gefährder/innen in den entsprechenden kantonalen Datenbanken registriert. Wichtige Themen waren häusliche Gewalt, Drohungen gegen Schulen und gegen Behörden.

Massenweise werden also bereits heute polizeiliche Dossiers angelegt und Ermittlungsmassnahmen verfügt zu Personen, gegen die in der Regel kein strafrechtliches Verfahren läuft und gegen die nicht einmal ein Verdacht auf ein Delikt besteht. Dies bedeutet einen schweren Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen. Um die rechtsstaatliche Brisanz dieses Vorgehens abzufedern, werden da und dort gesetzliche oder verwaltungsrechtliche Grundlagen geschaffen wie zum Beispiel das Reglement über das Bedrohungsmanagement der Stadtpolizei Zürich. Auch enthalten die revidierten Polizeigesetze der Kantone Zürich und Bern (hier ist noch ein Referendum hängig) entsprechende Freibriefe für Ermittlungen im präventiven Bereich.

Sanktionierende Massnahmen ohne konkreten Verdacht

Im Bereich der Terrorismusbekämpfung hat der Bund die Federführung. Seine Strategie von Repression und Prävention fusst auf vier Standbeinen: dem neuen Nachrichtendienstgesetz, dem Nationalen Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus (NAP), einem Gesetzespaket zur Verschärfung von Strafbestimmungen und einem Gesetzespaket zu präventiven polizeilichen Massnahmen. Die letzteren beiden Vorlagen werden vom Parlament vermutlich im kommenden Winter verabschiedet.

Nationaler Aktionsplan

Der Nationale Aktionsplan gegen Radikalisierung und Extremismus vom Dezember 2017, der die Ebenen von Bund, Kantonen und Gemeinden miteinander vernetzt, enthält 26 präventive Massnahmen in den Bereichen der Forschung, der Bildung, der Fachstellen, der interdisziplinären Zusammenarbeit, des Informationsaustauschs, der Reintegration etc.

Einige Massnahmen sind in unserem Zusammenhang bemerkenswert: Massnahme Nr. 7 möchte Instrumente zur Früherkennung von Radikalisierung fördern. Auch hier sind softwarebasierte Instrumente wie RA-PROF gemeint, welche von Fachpersonen, Fachstellen, Jugendämtern, Sozialdiensten, Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, im Straf- und Massnahmenvollzug und der Polizei angewandt werden sollen. Massnahme Nr. 8 möchte die bestehenden Instrumente zur Risikoeinschätzung und zum Risikomanagement im Justizvollzug stärken, wobei als Zielgruppe ausdrücklich die «Insassinnen und Insassen aller Institutionen des Freiheitsentzugs und Personen, die zu einer strafrechtlichen Sanktion verurteilt wurden», genannt werden, – also auch Personen, welche lediglich gebüsst wurden.

Die Massnahme Nr. 14 macht sich für die Einführung des Konzepts des Bedrohungsmanagements in allen Kantonen stark. «Es ist darauf zu achten, dass die Themengebiete Radikalisierung und gewalttätiger Extremismus in das Bedrohungsmanagement aufgenommen werden.» Und schliesslich verlangt die Massnahme Nr. 15 eine «gesetzliche Grundlage für den Austausch von personenbezogenen Informationen und Persönlichkeitsprofilen zwischen Bundesbehörden und kantonalen sowie kommunalen Behörden». Eine solche Grundlage ist die Voraussetzung dafür, dass die in den kantonalen Gefährderregistern gesammelten Personendaten zwischen allen Behördenstufen auf legale Weise frei fliessen können. Der NAP bemerkt lakonisch: «In der Vorlage für präventiv-polizeiliche Massnahmen des Bundes zur Terrorismusbekämpfung ist eine solche gesetzliche Grundlage vorgesehen.»

Polizeiliche Massnahmen

Diese Gesetzesvorlage hat es in sich. Sie bezweckt nichts weniger als die polizeiliche Regulierung des Privatlebens von Individuen, die für imstande gehalten werden, künftig terroristische Straftaten zu begehen, ohne dass konkrete Indizien dafür bestehen. Die Bundespolizei FEDPOL wird ermächtigt, gewisse einschneidende Massnahmen gegen solche «potenziell gefährlichen Personen» bzw. «Gefährder» zu verhängen, – und zwar (mit Ausnahme des Hausarrests) ohne Überprüfung durch ein Gericht. Vorausgesetzt wird nur die vage Vermutung, die Zielperson könnte eines Tages an einer (sehr weit gefassten) terroristischen Straftat beteiligt sein.

Ein Beispiel für eine solche polizeiliche Massnahme: Gemäss der Gesetzesvorlage kann die Kantonspolizei der Bundespolizei FEDPOL beantragen, eine als «Gefährder/in» klassierte Person dazu zu verpflichten, sich regelmässig zu Gesprächen mit Fachpersonen des kantonalen Bedrohungsmanagements zu treffen, also zum Beispiel mit forensischen Psychiatern/-innen oder mit polizeilichen Verbindungsoffizieren zum Nachrichtendienst des Bundes. Weigert sich die Zielperson, an solchen Aushorch-Gesprächen teilzunehmen, so kann gegen sie ein Hausarrest verhängt werden oder im Extremfall auch eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren. Der Gefährder oder die Gefährderin könnte ausserdem vom FEDPOL dazu verpflichtet werden, zu bestimmten Personen des eigenen Umfelds jeglichen Kontakt abzubrechen oder bestimmte Territorien nicht mehr zu betreten oder nicht mehr zu verlassen. Im Falle einer Weigerung drohen dieselben Sanktionen.

Diese Massnahmen und Sanktionen, die wohlgemerkt ausserhalb eines strafrechtlichen Verfahrens auf der Grundlage von blossen Vermutungen verhängt werden, verstossen gegen die Kerngehalte der Grund- und Menschenrechte auf Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, persönliche Freiheit und den Schutz der Privatsphäre. Sie wären demnach laut Bundesverfassung Art. 36 Abs. 4 rechtswidrig. Das Parlament müsste folgerichtig die Vorlage im hohen Bogen verwerfen.

Sicherheitshaft am Horizont

Allerdings sollte man sich keine Illusionen machen: Die Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) begrüssen die Vorlage vorbehaltslos und lobbyieren seit Mitte 2017 für das zusätzliche Instrument einer Präventivhaft für Verurteilte, die nach dem Verbüssen ihrer Strafe ein ernsthaftes Rückfallrisiko aufweisen. Konkret wird eine solche Sicherheitshaft für strafentlassene Jihadisten/-innen gefordert. In der Vernehmlassung zu den polizeilichen Massnahmen des Bundes forderten die KKJPD und mit ihr viele Kantone folgerichtig eine sogenannte «gesicherte Unterbringung für Gefährder» (GUG). Dies wäre der Gipfel der Gefährder-Hysterie: eine Person nur aufgrund ihrer mutmasslich gefährlichen ideologischen Haltung auf unbestimmte Zeit wegzusperren. Damit würde die Schweiz ihr eigenes rechtlich bemänteltes Guantánamo schaffen.

Kommentar: Ein Vorgeschmack auf den Überwachungsstaat

In China arbeiten die Behörden mit Feldversuchen intensiv daran, alle möglichen staatlichen und privaten Datensammlungen, insbesondere auch die Daten der massenhaften Videoüberwachungskameras, die mit einer Gesichtserkennungssoftware ausgestattet sind, in eine einzige personenbezogene Datenbank zusammenzuführen. Eines von mehreren Zielen einer solchen Metadatenbank wäre es, jede einzelne chinesische Bürgerin aufgrund von Kriterien des Wohlverhaltens laufend moralisch zu bewerten. Fällt der Tugendbarometer einer Person unter einen bestimmten Wert, so wird sie automatisch mit bestimmten Sanktionen wie dem Ausschluss vom Zugang zur Bildung belegt. Die chinesischen Behörden rechnen damit, in 2-3 Jahren flächendeckend ein funktionierendes moralisches Überwachungs- und Sanktionssystem aufgebaut zu haben.

Wir wähnen uns durch einen unüberwindbaren rechtsstaatlichen Wall geschützt vor solchen totalitären Albträumen. Doch die neueren Entwicklungen in der Gewaltprävention bei uns durchlöchern den rechtsstaatlichen Schutzwall auf bedenkliche Weise. Softwaregestützte Systeme verarbeiten individuelle Personendaten zu Gefährlichkeitsprognosen, an welche einschneidende Massnahmen für die betroffenen Individuen geknüpft werden. Die Sanktionen werden in einen Bereich vorverlagert, in welchem anstelle der Strafrichter/innen die forensischen Psychiater/innen und die Polizei das Sagen haben.

Der Zweck der Gewaltprävention scheint die neuartigen, auf die Zukunft bezogenen Formen der Stigmatisierung zu rechtfertigen. Dass damit Grund- und Menschenrechte ausgehebelt werden, wird von den bürgerlichen Mehrheiten in den Parlamenten in Kauf genommen. Eine schrittweise Ausweitung dieser Präventionslogik auf immer neue Lebensbereiche ist wahrscheinlich, falls es nicht bereits heute gelingt, parteiübergreifende politische Allianzen dagegen zu bilden. Denn potenziell gefährlich sind wir alle.

Nachtrag

Der vorliegende Artikel wurde in einer leicht umgestellten Version in der WoZ Nr. 37/2018 vom 13.09.2018 publiziert. Leider enthält diese Version, bedingt durch einen nicht-autorisierten Eingriff, einen sinnentstellenden Fehler, wonach die Massnahmen des Nationalen Aktionsplan gegen Radikalisierung und Extremismus die Kerngehalten von Grund- und Menschenrechten verletzen würden, was natürlich Unsinn ist.