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Religion in der Schule

27.01.2023

Öffentliche Diskussionen zur Religionsfreiheit von Kindern, Erziehungsberechtigten und Lehrpersonen in öffentlichen Schulen treten in der Schweiz immer wieder auf. Rechtliche Instanzen sprechen sich dabei häufig für die Zulässigkeit der Einschränkung der Religionsfreiheit im schulischen Umfeld aus.

In der Schweiz sind die öffentlichen Schulen zur konfessionellen Neutralität verpflichtet. Die Bundesverfassung von 1874 (Art. 27 Abs. 3) hielt noch explizit fest, dass die öffentlichen Schulen von den «Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit» besucht werden können muss. In der revidierten Bundesverfassung von 1999 ist die Neutralitätspflicht der öffentlichen Schulen zwar nicht mehr explizit verbrieft, sie leitet sich aber aus der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV) und dem Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs.2 BV) ab.

Auch in mehreren Kantonsverfassungen wird die konfessionelle Neutralität der öffentlichen Schulen festgehalten, während sich in den kantonalen Bildungsgesetzen weiterhin Bezugnahmen auf das Christentum finden lassen. So wird etwa in der Zürcher Verfassung und im kantonalen Bildungsgesetz (Art. 4) festgehalten, dass öffentliche Schulen konfessionell und politisch neutral sein müssen. Demgegenüber steht in Artikel 2 des Zürcher Volksschulgesetzes, dass die Volksschule zu einem «an christlichen, humanistischen und demokratischen Wertvorstellungen» orientierten Verhalten erzieht, dies unter Berücksichtigung von Minderheiten sowie der Glaubens- und Gewissensfreiheit. In der Rechtsprechung wird die direkte religiöse Bezugnahme auf das Christentum als kulturelle Tradition interpretiert.

Konflikte mit religiösen Symbolen an öffentlichen Schulen

Im Kontext des obligatorischen Grundschulunterrichts kommt insbesondere dem Verbot jeglichen Zwangs in Zusammenhang mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit (negative Religionsfreiheit, Art. 15 BV) eine grosse Bedeutung zu: Schüler*innen dürfen in der Schule keinem weltanschaulichen oder religiösen Zwang ausgesetzt werden. Deshalb haben sich laut der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts vom Staat angestellte Lehrpersonen religiös neutral zu verhalten – wobei ihre individuelle Religionsfreiheit eingeschränkt werden kann.

Das Bundesgericht beurteilt Kopftücher an öffentlichen Schulen als religiöse Symbole und entscheidet in der Frage nach der Zulässigkeit unter anderem danach, ob es sich um eine*n Schüler*in oder eine Lehrperson handelt. Es entschied im Jahr 1997, dass das Verbot für eine Lehrperson, während des Unterrichts ein Kopftuch zu tragen, zwar die Religionsfreiheit tangiere, jedoch zulässig sei (BGE 123 I 296): Die betroffene Lehrerin repräsentiere die religiös neutrale staatliche Schule. Der Schulunterricht sei zudem obligatorisch und Primarschüler*innen noch beeinflussbar – sie könnten das Kopftuch noch nicht so einordnen wie ältere Schüler*innen. Die Lehrerin zog das Urteil an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiter, welcher die Beschwerde abwies (Klage Nr. 42393/98). Der Gerichtshof beurteilte die Einschränkung der Religionsfreiheit als mit Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar. Die Tatsache, dass Menschen mit Kopftuch von bestimmten Berufen ausgeschlossen werden, wird aus zivilgesellschaftlicher Perspektive hingegen als Zeichen von strukturellem Rassismus gewertet.

Im Fall einer Schülerin, welcher durch die Schule das Tragen des Kopftuches verboten werden sollte, erachtete das Bundesgericht den Eingriff in die Glaubens-  und Gewissensfreiheit hingegen als unzulässig (BGE 2C_121/2015). Es begründete den Entscheid mit dem Fehlen eines öffentlichen Interesses. Ausserdem würde das Tragen des Kopftuchs den Schulunterricht nicht stören. Bereits 2013 – zwei Jahre zuvor – hatte das Bundesgericht den Entscheid einer Thurgauer Gemeinde revidiert, welcher zwei Schülerinnen das Tragen ihrer Kopftücher in der Schule verboten hatte. Gemäss Bundesgericht stellt eine Schulordnung nicht eine ausreichende rechtliche Grundlage für ein Kopftuchverbot dar (BGE 2C_794/2012). Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus erinnerte daraufhin in einer Stellungnahme vom Juni 2011 daran, dass «Schüler*innen Privatpersonen sind, deren Privatsphäre und Religionsfreiheit grösstmöglich zu respektieren ist. (…) Die Schule hat grundsätzlich das religiöse Erziehungsrecht der Eltern über ihre Kinder bis zur religiösen Mündigkeit zu respektieren (Art. 303, al 1 und 3 des Zivilrechts), solange nicht elementare Rechte des Kindes und das Kindeswohl verletzt oder der Schulbetrieb beeinträchtigt werden».

Neben Kopftüchern sind an Schulen auch andere als religiös gelesene Symbole präsent. Im Fall Lautsi u.a. gegen Italien (2011) bezeichneten Richter*innen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Kopftücher als starkes aktives religiöses Symbol, während Kruzifixe ein passives religiöses Symbol darstellen würden. Mit dieser umstrittenen Bewertung religiöser Symbole entschied das Gericht, dass die obligatorische Anbringung von Kruzifixen in sämtlichen staatlichen Schulen Italiens zulässig sei. Das Schweizer Bundesgericht entschied im Jahr 1990 (BGE 116 Ia 252), dass in den Klassenzimmern von öffentlichen Schulen keine Kruzifixe auf staatliches Anordnen hin aufgehängt werden dürfen, da dies der religiösen Neutralität der Schule widerspreche (BV Art. 27 Abs. 3). In vielen Schweizer Schulzimmern hängen aber weiterhin Kruzifixe, über deren Abnahme erst verhandelt wird, wenn darüber Beschwerden eingehen.

Dispensen vom Unterricht

Laut kantonalen Regelungen sind in der Schweiz Dispensen von einzelnen Schulfächern aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen nicht möglich. Unabhängig von den Schulfächern kann von den Erziehungsberechtigten aber für religiöse Feste und Feiertage eine Freistellung vom Unterricht beantragt werden. Der Integrationsauftrag der Schule wird in der Rechtspraxis grundsätzlich über die Religionsfreiheit gestellt und allfällige Grundrechtseinschränkungen in diesem Zusammenhang als verhältnismässig angesehen.

Im Jahr 2008 änderte das Bundesgericht sodann seine Rechtspraxis zur Dispensation vom gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht aus religiösen Gründen (BGE 135 I 79). Während es den Dispens vom Schwimmunterricht zuvor als zulässig erachtete (BGE 119 IA 178 ff.), verstand es die Verweigerung der Dispensation nun zwar als Eingriff in die Religionsfreiheit, jedoch nicht als Verletzung des Kerngehalts. Es bestehe zudem ein öffentliches Interesse der Erziehung zur Gleichbehandlung der Geschlechter. Zur Praxisänderung trug auch die UNO-Kinderrechtskonvention bei, welche 1997 durch die Schweiz ratifiziert worden war. Das Urteil von 2008 betraf zunächst zwei Jungen, die Rechtspraxis wurde 2012 dann auch explizit auf Mädchen angewendet. Dieser Entscheid wurde 2018 auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gestützt. Im gleichen Jahr erachtete dieser auch die Verweigerung der Dispensation von Sexualkundeunterricht als konform mit der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Religionsunterricht, religiöser Unterricht und religiöse Privatschulen

Mit dem Lehrplan 21, welcher eine Annäherung zwischen den kantonal geregelten Schulsystemen (BV Art. 62) anstrebt, wird das Fach «Religionen, Kulturen, Ethik» eingeführt. Laut diesem dürfen Schulfächer, in welchen über Religionen gelehrt wird (teaching about religion) obligatorisch sein, solange sie weltanschaulich neutral – ohne Hinführung der Schüler*innen zu einer bestimmten Religion – unterrichtet werden. Die regionalen Unterschiede in der Ausgestaltung des Religionsunterrichts und der Übernahme des Lehrplan 21 sind jedoch weiterhin gross.

Ein religiöser Unterricht (teaching in religion), welcher den Schüler*innen eine bestimmte innerreligiöse Haltung vermittelt, muss demgegenüber freiwillig sein (BV Art. 15 Abs. 4). Im Sinne der negativen Religionsfreiheit darf niemand dazu gezwungen werden, religiösem Unterricht zu folgen. Gemäss der positiven Religionsfreiheit hat aber auch jede Person das Recht, an religiösem Unterricht teilzunehmen, sofern sie das möchte (BV Art. 15 Abs. 3). In den meisten Kantonen darf der Unterricht von öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften innerhalb der schulischen Räume stattfinden und wird an den Stundenplan des obligatorischen Grundschulunterrichts angepasst. Demgegenüber müssen andere Glaubensgemeinschaften ihren religiösen Unterricht privat organisieren.

Neben den öffentlichen Schulen gibt es in der Schweiz auch ein grosses Angebot an Privatschulen, darunter katholische, evangelische und jüdische. Sie unterstehen keiner konfessionellen Neutralitätspflicht, dürfen obligatorischen, religiösen Unterricht abhalten und bieten teilweise auch geschlechtergetrennten Unterricht an. Da der Kanton den Privatschulen, welche den obligatorischen Grundschulunterricht abdecken, eine öffentliche Aufgabe überträgt, kann er die dazu notwendige Bewilligung auch verweigern. So entschied das Bundesgericht im Jahr 2003, dass es aus verfassungsrechtlicher Sicht möglich ist, einer Scientology-nahen Trägerschaft keine Privatschulbewilligung zu erteilen (BGE 2P.296/2002).

Religion und Vorstellungen von «Kultur» und «Tradition»

Das grosse Spannungsfeld zwischen Religion und Vorstellungen von «Kultur» und «Tradition» im schulischen Kontext zeigte sich im Jahr 2015 beispielhaft in der Gemeinde Therwil (BL): Zwei Schüler der Sekundarschule wollten aus religiösen Gründen ihren weiblichen Lehrpersonen nicht mehr die Hand geben. Die Schule entschied daraufhin intern, dass die beiden Schüler auch männlichen Lehrpersonen nicht mehr die Hand geben sollten, damit die Gleichstellung gewährleistet sei.

Aus menschenrechtlicher Sicht bestand ein Konflikt zwischen dem Recht auf Gleichstellung von Frauen (Art. 8 Abs. 3 BV) und dem Recht auf Religionsfreiheit (Art. 15 BV). Aus menschenrechtlicher Sicht wäre es möglich gewesen, die Religionsfreiheit der beiden Schüler einzuschränken, solange der Kerngehalt derselben nicht verletzt wird. In der öffentlichen Debatte wurde diese Diskussion jedoch relativ bald aussen vor gelassen und es wurde nicht über Gleichstellung, sondern über kulturelle Werte diskutiert.

Der Rechtsstab der kantonalen Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion wie auch der Bildungsrat des Kantons Baselland beurteilten den internen Kompromiss wenig später als unrechtmässig und verlangte von den Schülern, dass sie künftig wieder allen Lehrpersonen die Hand geben. Obwohl die Eltern mit ihrer Beschwerde an den Regierungsrat teilweise erfolgreich waren, wurde die Einforderung des Handschlages grundsätzlich als zulässig erachtet, da es sich dabei «um eine in der hiesigen Gesellschaft übliche Geste» handle, «welche bereits kleinen Kindern beigebracht wird».

Der Fall zog weitreichende Konsequenzen nach sich. Im Nachgang an die öffentliche Debatte wurde das Bildungsgesetz des Kantons Baselland angepasst, wodurch Schüler*innen ohne Schweizer Pass bei der kantonalen Ausländerbehörde gemeldet werden müssen, wenn «wesentliche Probleme im Zusammenhangmit der Integration» auftreten (Art 5 Abs. 1bis). Ausserdem wurde das Einbürgerungsgesuch der Familie ohne Angabe von Gründen sistiert. Auch in den Medien wurde der Fall unter reger Beteiligung breit diskutiert. Fragen nach «der schweizerischen Kultur und ihren Werten», sowie der Rolle «des Islams» bei der Integration wurden in einer stark emotionalisierten und politisierten Debatte angeknüpft.

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