06.12.2019
Im Folgenden finden sich einige Eckpunkte für das Verständnis des im internationalen Recht und in der Bundesverfassung verankerten Menschenrechts auf Religionsfreiheit. Die Angaben dienen einer Einführung und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Grundgehalt
Die Religionsfreiheit schützt den Menschen in der religiösen und weltanschaulichen Sphäre. Dabei wird unterschieden zwischen der negativen und der positiven Religionsfreiheit.
Negative Religionsfreiheit
Niemand darf vom Staat oder von Dritten dazu gezwungen werden, ein bestimmtes Glaubensbekenntnis oder religiöse Handlungen auszuüben, einer Religionsgemeinschaft beizutreten, die Religion zu wechseln oder gegen den eigenen Willen in einer Glaubensgemeinschaft zu verbleiben.
Positive Religionsfreiheit
Die positive Religionsfreiheit kann in zwei Dimensionen unterteilt werden, eine individuelle und eine kollektive Dimension:
Die individuelle Dimension gewährt jedem Menschen das Recht, einen Glauben oder eine Weltanschauung zu wählen, einer Religionsgemeinschaft seiner Wahl anzugehören oder eine solche zu gründen. Dazu gehört auch die individuelle sowie kollektive Ausübung und Bekundung des Glaubens und religiöser Kulte sowie der Unterricht. Umfasst wird aber auch die Entscheidung jedes Individuums, bewusst keiner Glaubensgemeinschaft angehören zu wollen.
Die kollektive Dimension umfasst demgegenüber das Recht, religiöse Gemeinschaften zu gründen und sich zum Zwecke der Religionsausübung zu versammeln, die geistlichen Führer/innen zu bestimmen sowie den Glauben zu verbreiten und aktiv neue Mitglieder anzuwerben.
Rechtsquellen
Die Religionsfreiheit wird sowohl von zahlreichen internationalen Menschenrechtsverträgen, als auch auf nationaler Ebene garantiert.
Pflichten des Staates
Individuen oder Gruppen sind die Rechtsträger von Menschenrechten. Demgegenüber fallen den Staaten drei Pflichten zu: Die Achtungs-, Schutz- und Gewährleistungspflicht.
Achtungspflichten
Staatliche Organe haben nicht gerechtfertigte Eingriffe in die Religionsfreiheit zu unterlassen, wie beispielsweise:
- das gesetzliche Verbot bestimmter Glaubensrichtungen oder des Religionswechsels
- die Unterdrückung von Menschen aufgrund ihrer atheistischen Weltanschauung
- staatlicher Zwang zur Teilnahme am Religionsunterricht
Schutzpflichten
Staatliche Organe müssen Massnahmen ergreifen, um Verletzungen der Religionsfreiheit durch nichtstaatliche Dritte (Privatpersonen, Unternehmen etc.) zu verhindern, zum Beispiel:
- der Schutz Austrittswilliger einer Glaubensgemeinschaft, wenn Dritte diesen verhindern wollen
- der Schutz von Glaubensgemeinschaften vor Hassreden und Übergriffen durch Dritte
Gewährleistungspflichten
Staatliche Organe müssen institutionelle und materielle Voraussetzungen schaffen, um die volle Realisierung der Religionsfreiheit zu gewährleisten, dazu gehören unter anderem:
- wirksame Beschwerdemöglichkeiten gegen jede Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit
- die Neutralitätspflicht des Staates gegenüber verschiedenen Religionen
Kerngehalt
Jeder Eingriff in den Kerngehalt eines Menschenrechts ist verboten. Die negative Religionsfreiheit bildet hier den Kerngehalt; das Verbot, jemanden zur Angehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft zu zwingen, oder auch das Verbot, die Religion zu wechseln, sind somit absolut und dürfen nicht eingeschränkt werden.
Legitime Einschränkungen
Die Religionsfreiheit darf nur eingeschränkt werden, wenn die allgemeinen Bedingungen für Eingriffe in Grund- und Menschenrechte erfüllt sind. Dafür muss eine gesetzliche Grundlage vorhanden und die Einschränkung notwendig und verhältnismässig sein, um die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Sittlichkeit sicherzustellen, oder die Grund- und Menschenrechte anderer zu wahren.
Beispiele für legitime Einschränkungen
- Verbot religiöser Symbole an öffentlichen Schulen wegen der Neutralitätspflicht des Staates
- Verbot der Missionierung unter Ausnutzung einer Machtstellung, etwa im Militär
- Beschränkung der Benützung des öffentlichen Grunds für Kultushandlungen, wie beispielsweise Prozessionen
Kontroverse Themen
- Verweigerung der Dispensation vom Sexualkundeunterricht verstösst nicht gegen die EMRK
Dürfen sich Schüler/innen in öffentlichen Schulen unter Berufung auf die Religionsfreiheit vom Sexualkundeunterricht dispensieren lassen?
Artikel auf humanrights.ch, 19. Januar 2018 - Scientology kein Träger für private Grundschule
Sekte als Grundschulträgerschaft?
Urteil und Zeitungsartikel auf humanrigts.ch, 2. November 2005 - Verhüllungsverbot
Soll in der Schweiz auf nationaler Ebene ein Verhüllungsverbot eingeführt werden?
Artikel auf humanrights.ch, 7. Oktober 2019 - Bundesgericht: Kopftuchverbot an Schule in St. Margrethen ist unzulässig
Dürfen Schülerinnen an Schweizer Schulen ein Kopftuch tragen?
Artikel auf humanrights.ch, 14. Dezember 2015
Ausgewählte Rechtsprechung und Empfehlungen
- Religionsfreiheit
Informationsblatt zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (pdf, 10 S.) - Kein Dispens vom Schwimmunterricht: EGMR stützt Schweizer Praxis
Osmanoğlu und Kocabaş gegen die Schweiz, Urteil Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, 10. Januar 2007 - Mohammed in Österreich: Strassburg setzt den Religionsfrieden in einem schwierigen Umfeld durch
E.S. gegen Österreich, Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, 27. Mai 2019 - EGMR billigt das Burkaverbot in Frankreich
S.A.S. gegen Frankreich, Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, 31. Juli 2014
Online-Texte zur Vertiefung
- Die rechtliche Behandlung des Kopftuchs im Spannungsfeld von Religionsfreiheit, religiöser Neutralität, Geschlechtergleichheit und Integration
Studie von Jacqueline Augsburger, Oktober 2005
Inhaltlich verwandte Menschenrechte
- Gedanken-, Gewissens- und Meinungsfreiheit
- Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit
- Minderheitenrechte
- Diskriminierungsverbot/Rechtsgleichheit