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EGMR billigt das Burkaverbot in Frankreich

31.07.2014

Das französische Gesetz, welches die Burka aus dem öffentlichen Raum verbannen soll, ist menschenrechtskonform. Dies hält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem Urteil vom 1. Juli 2014 fest. Das Gesetz vom 11. Oktober 2010 verbietet die Verhüllung des Gesichts im öffentlichen Raum. Nach Ansicht Strassburgs verletzt das Gesetz weder die Freiheit des Glaubens, der Gedanken oder des Gewissens (Art. 9 EMRK) noch das Recht auf ein Privat- und Familienleben (Art. 8 EMRK).

Das nun vorliegende Urteil stösst europaweit auf Interesse und wird über die französischen Grenzen hinweg die Rechtssetzung beeinflussen, da das Tragen von Ganzkörperschleiern in Europa ein eifrig debattiertes Thema ist. Das gilt auch für die Schweiz, wo die Tessiner Stimmbürger/innen einer entsprechenden kantonalen Regelung zugestimmt haben (siehe unseren Artikel zum Thema).

Der Sachverhalt

Eine junge Französin muslimischer Religionszugehörigkeit hatte gegen den Erlass in ihrem Heimatstaat Beschwerde eingereicht, weil sie den Ganzkörperschleier mit der Inkraftsetzung des Verbots der Verschleierung des Gesichts im öffentlichen Raum im April 2011 ablegen musste. Sie ging davon aus, dass die Einführung des Verbots in die französische Rechtsordnung gegen die Europ. Menschenrechtskonvention verstösst. Bei der Einreichung ihrer Beschwerde 2011 machte sie eine Verletzung von Artikel 8 (Schutz des Privats- und Familienlebens), Artikel 9 (Religions-, Gedankens- und Gewissensfreiheit), Artikel 10 (Meinungsäusserungsfreiheit) und Artikel 14 (Verbot der Diskriminierung) geltend. Unter anderem führte sie an, das Verbot sei eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Religion und der ethnischen Herkunft, welches Frauen schlechter stelle, die (wie sie selber) den Gesichtsschleier tragen. Dieses Verbot verunmögliche es ihr, ihren Glauben ihrem Gewissen gemäss zu praktizieren.

Der Entscheid des Gerichtshofs

Der Gerichtshof hat einen Teil der Argumente des französischen Staates zurückgewiesen und festgehalten, dass weder die Gleichstellung zwischen Mann und Frau noch der Respekt der Menschenwürde hinlängliche Motive sind, um ein Verbot des Ganzkörperschleiers im öffentlichen Raum zu rechtfertigen. Mit der Gesetzesänderung erfolgt nach Ansicht des Gerichtshofs eine Benachteiligung der betroffenen Frauen. Dennoch bewertet er das angefochtene Verbot mit Blick auf das Ziel, das «gesellschaftliche Zusammenleben» zu erhalten, als verhältnismässig. Den Begriff des «gesellschaftlichen Zusammenlebens» qualifizieren die Richter/innen als flexibel. Aber es sei dem Umstand Rechnung zu tragen, dass das Tragen eines Gesichtschleiers im öffentlichen Raum für andere Personen zugleich eine Abgrenzung bedeute, welche die Möglichkeiten für offene zwischenmenschliche Kontakte in grundsätzlicher Weise beeinträchtige. Diese Möglichkeit mit andern in Kontakt zu treten, sei im Sinne eines etablierten Konsenses ein unverzichtbares Element des Lebens in einer Gesellschaft.

Darüber hinaus hat der Gerichtshof erwogen, dass die drohenden Sanktionen - ein Maximum von 150 Euro Busse und die bestehende Möglichkeit die Busse mit einem Sozialpraktikum abzugleichen - eher leichten Charakter haben.

Teilweise abweichende Meinung

Diese Argumentationsweise fand nicht die Zustimmung aller Richter/innen der Grossen Kammer in Strassburg. Die deutsche und die schwedische Richterin beurteilten die Sachlage in gewissen Punkten etwas anders. Sie halten in der Urteilsbegründung fest: «Konkrete individuelle Rechte, welche die Konvention garantiert, wurden hier abstrakten Prinzipien unterworfen». «Unserer Ansicht nach ist ein dermassen generelles Verbot, welches das Recht einer jeden Person auf eine eigene kulturelle und religiöse Identität tangiert, in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig.» Die Richterinnen mit abweichender Meinung riefen in Erinnerung, der Gerichtshof habe im Zusammenhang mit Angriffen auf die Meinungsäusserungsfreiheit wiederholt unterstrichen, dass die Konvention nicht nur diejenigen Ansichten schütze, welche «mit Genugtuung angenommen oder als harmlos und gleichgültig betrachtet werden, sondern auch (...) all diejenigen, die Schmerzen verursachen, schockieren und beunruhigen». So wolle es der «Pluralismus, die Toleranz und der offene Geist ohne welchen es keine demokratische Gesellschaft gebe.»

Konsequenzen für die Schweiz

In der Schweiz ist der EGMR-Entscheid insbesondere von den Befürwortern eines Burkaverbots mit Interesse aufgenommen worden. Das Egerkingen-Komitee, das die Abstimmungskampagne für ein Minarettverbot geführt hatte, sieht sich nun ermutigt, auf nationaler Ebene eine Burkaverbotsinitiative zu lancieren. Allerdings vermuten einige Beobachter, dass die Billigung eines Verbots in Frankreich durch den EGMR nicht unbedingt auf die Schweizer Verhältnisse zu übertragen ist. Medien zitierten etwa Urs Saxer, Professor für öffentliches Recht in Zürich, der sagte, dass Schweizer und französische Fälle unterschiedlich zu bewerten seien. In gewissen Gegenden Frankreichs sei die Anzahl verschleierter Frauen so hoch, dass sie ein echtes Gesellschaftsproblem seien. In der Schweiz hingegen sei dies anders, was Strassburg dazu motivieren könnte für die Schweiz einen andern Entscheid zu fällen.

Das Egerkingen-Komitee wartet vorerst jedenfalls die Parlamentsdebatte über die neue Regelung in der Tessiner Verfassung ab. Das Tessiner Vermummungsverbot, welches Burkas und Niqabs aus dem öffentlichen Raum verbannen soll, muss noch von den Eidg. Räten bestätigt werden. 

Kommentar von Humanrights.ch

Das Urteil der Grossen Kammer ist in Menschenrechtskreisen negativ aufgenommen worden. Allen voran hat Amnesty International das Urteil als «harten Schlag für das Recht auf freie Meinungsäusserung und die Religionsfreiheit» kritisiert.

Der EGMR selber weist in seiner Urteilsbegründung auf einen Punkt hin, den sich auch die Schweizer Legislative vor Augen halten sollte: Staaten, die wie Frankreich ein entsprechendes Verbot erlassen, nehmen in Kauf, dass sich negative Stereotypen verfestigen und fördern damit intolerantes Verhalten, statt für Toleranz einzustehen. Der Gerichtshof hat in der Vergangenheit mehrfach gezeigt, dass er in gesellschaftlichen Fragen sehr zögerlich vorgeht, insbesondere bei Fragen, welche die Trennung von Kirche und Staat betreffen. Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Fall Lautsi gegen Italien aus dem Jahre 2011: Zuerst hatte die Kleine Kammer des EGMR eine Beschwerde gebilligt und festgehalten, das Anbringen eines Kruzifixes in Schulzimmern verstosse gegen das Recht der Eltern auf eine religiöse und philosophische Erziehung, die ihren eigenen Überzeugungen entspricht. Die Grosse Kammer des EGMR stiess dieses Urteil um und gestand damit Italien in dieser religiösen Frage einen gewissen Ermessenspielraum zu. Im nun veröffentlichten Urteil betreffend Frankreich gewährt der EGMR dem Staat ausdrücklich einen solchen Ermessensspielraum, wenn er in der Urteilsbegründung schreibt, «die Frage, ob der Ganzkörperschleier im öffentlichen Raum getragen werden darf oder nicht, ist eine gesellschaftliche Frage, bei der Frankreich ein weitgehender Ermessensspielraum zusteht. In einem solchen Fall hält sich der Gerichtshof bei der Prüfung der Menschenrechtskonformität zurück, weil es um einen Entscheid geht, der in einem demokratischen Prozess aus dem Innern der betroffenen Gesellschaft hervorgegangen ist».

In Frankreich ärgert man sich dennoch über die Einmischung aus Strassburg. Doch der EGMR hat mit dem Urteil einmal mehr gezeigt, dass er sich bei Fragen, welche gesellschaftliche und moralische Ansichten betreffen, sehr zurückhält. Diese Zurückhaltung ist für Personen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, schwer hinzunehmen. Gleichzeitig ist sie wohl der Preis, der bezahlt werden muss, damit die Institution EGMR auf europäischem Boden weiter bestehen kann.

Quellen

Weiterführende Informationen