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Antisemitismus und Diskriminierung jüdischer Personen

27.01.2023

Personen, die sich selbst als jüdisch bezeichnen oder als jüdisch wahrgenommen werden, sind in der Schweiz mit verschiedenen Formen von Diskriminierung und Feindseligkeiten konfrontiert. Antisemitismus ist kein neues Phänomen, sondern zieht sich durch die Schweizer Geschichte und ist auch in der Gegenwart präsent.

Es gibt viele unterschiedliche Definitionen für den Begriff Antisemitismus. Im Kern beschreibt er eine ablehnende Haltung oder Einstellung gegenüber Menschen, die sich als jüdisch bezeichnen oder so wahrgenommen werden.

Antisemitismus ist in der Schweiz kein neues Phänomen

Schon im 13. Jahrhundert war in der Schweiz der religiös begründete Antijudaismus verbreitet, welcher den Vorwurf des «Christusmordes» beinhaltete, wonach jüdische Menschen von der christlichen Kirche für den Mord an Jesus verantwortlich gemacht wurden (Ideologie des religiösen Antisemitismus). Jüdische Menschen wurden im christlichen Umfeld der mittelalterlichen Schweiz unter ein diskriminierendes Sonderrecht gestellt, mussten Sondersteuern bezahlen und durften bestimmte Berufe nicht ausüben. Durch die Verbote, Zünften beizutreten oder Land zu besitzen, konnten jüdische Menschen keine handwerklichen oder landwirtschaftlichen Berufe ausüben. Somit blieben nur Hausieren, Handel und Geldgeschäfte übrig. Diese Einschränkungen begründen und zeigen sich auch heute noch in antisemitischen Vorurteilen, welche jüdische Menschen als geldgierig, geschäftstüchtig oder geizig beschreiben (Ideologie des sozialen Antisemitismus). In den Jahren 1348/49 folgten Verfolgungen und Verbrennungen von jüdischen Personen, die für die Pest und später für Ritualmorde verantwortlich gemacht wurden. Im Jahr 1491 wurden jüdische Menschen sogar komplett aus der alten Eidgenossenschaft ausgewiesen.

Ab dem 17. Jahrhundert durften sich jüdische Personen wieder in der Schweiz niederlassen, jedoch nur in den beiden Dörfern Lengnau und Endingen im Kanton Aargau. Auch dort waren sie noch Benachteiligungen gegenüber der christlichen Bevölkerung ausgesetzt. Landbesitz und handwerkliche Berufe blieben ihnen weiterhin verboten. Erst auf internationalen Druck hin erhielt die jüdische Bevölkerung in der Schweiz 1866 die Niederlassungsfreiheit und 1874 mit der Kultusfreiheit das Recht, ihren Glauben überall zu praktizieren.

Ab 1873 nahmen infolge der Wirtschaftskrise antisemitische Strömungen wieder zu. So hatte die erste Schweizer Volksinitiative im Jahr 1893 dann auch das Schächtverbot zum Thema. Schächten ist die im Judentum vorgeschriebene rituelle Schlachtung von Tieren ohne vorherige Betäubung. Aufgrund der fehlenden Betäubung entstand ein Konflikt zwischen dem Tierschutzgesetz und der Religionsfreiheit. Im Abstimmungskampf standen jedoch eindeutig antisemitische Argumente im Vordergrund. Die Initiative wurde mit 60% Ja-Stimmen angenommen. Als Kompromisslösung ist heute die Einfuhr von koscherem und Halal-Fleisch im Tierschutzgesetz erlaubt.

Ideologisch entwickelte sich im 19. Jahrhundert der religiös begründete Antijudaismus zu einer nationalistisch und einer rassistisch begründeten Form des Antisemitismus weiter. Dabei wurden alte religiöse und soziale Anschuldigungen – wie jene von Ritualmorden oder Geldgier – durch neue Anschuldigungen überlagert, nach denen jüdische Menschen «Volksschädlinge» seien (Ideologie des nationalistischen Antisemitismus). Gleichzeitig wurden jüdische Menschen rassifiziert und gegenüber anderen herabgesetzt (Ideologie des rassistischen Antisemitismus). Dieses Gedankengut mündete schliesslich im nationalsozialistischen Völkermord an rund sechs Millionen jüdischen Menschen – der Shoah. Während dieser Zeit verfolgte die Schweiz eine antisemitisch geprägte Flüchtlingspolitik und verweigerte vielen fliehenden jüdischen Menschen die Aufnahme.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg verschwanden antisemitische Einstellungen nicht. Antisemitische Verschwörungstheorien halten sich hartnäckig über die Jahrhunderte und haben sich jüngst während der Corona Pandemie wieder vermehrt gezeigt. Im Kern steht meistens die Idee einer «jüdischen Weltverschwörung» mit dem «Ziel der Weltherrschaft» (Ideologie des politischen Antisemitismus). Mit der Gründung des Staates Israel 1948 entstand zudem eine kontroverse Debatte um israelbezogenen Antisemitismus.

Was ist Antisemitismus?

Es gibt keine rechtlich bindende, allgemeingültige Definition von Antisemitismus. Die Auswahl an rechtlich nicht bindenden Definitionen ist gross und die Debatten darum sind häufig politisch und emotional stark aufgeladen.

Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und die Kritik daran

Sehr verbreitet ist die 2016 verabschiedete Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Sie wurde von 38 Staaten und verschiedenen Organisationen anerkannt, mit dem Ziel das juristische Vorgehen und die Erfassung von antisemitischen Vorfällen zu vereinheitlichen. Auch die Schweiz gehört seit 2004 der IHRA an und war bei der Ausarbeitung und Verabschiedung der Arbeitsdefinition der IHRA dabei, sie hat die Definition jedoch nicht offiziell anerkannt. 2021 hat der Bundesrat in einem Bericht die Arbeitsdefinition als «zusätzlichen Leitfaden» empfohlen, um antisemitische Vorfälle zu identifizieren. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund SIG und die der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus GRA arbeiten im jährlichen Antisemitismusbericht mit der Arbeitsdefinition der IHRA. Insbesondere der SIG spricht sich für deren offizielle Anerkennung durch die Schweiz aus.

Im Wortlaut beschreibt die Arbeitsdefinition der IHRA Antisemitismus als «eine bestimmte Wahrnehmung von jüdischen Menschen, die sich als Hass gegenüber jüdischen Menschen ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.» Ergänzt wird die Definition durch Beispiele zu deren Handhabung.

Die Beispiele der Arbeitsdefinition sind jedoch zum Teil umstritten, denn sieben der elf Beispiele beziehen sich auf den Staat Israel. Laut dem Bericht des Bundesrates von 2021 – welcher auf einer juristischen Analyse der Arbeitsdefinition der IHRA beruht – kann «die kontextlose Anwendung dieser Beispiele dazu missbraucht werden, die Grenzen legitimer politischer Äusserungen und Handlungen in Bezug auf Zionismus, den Staat Israel und Palästina zu verwischen, und dabei jede Kritik als per se antisemitisch zu delegitimieren. Dies kann letztlich nicht nur zu Irritationen und Kontroversen, sondern zu einer eigentlichen Zensur führen.» Basierend auf solcher Kritik entstand 2021 die Jerusalem Declaration on Antisemitism, als Alternative zur IHRA Definition. Auch um diese Definition wurde eine aufgeheizte Debatte geführt, woran sich zeigt, wie intensiv politisch aufgeladen die Diskussionen um eine allgemein anerkannte Antisemitismusdefinition und die Grenzen zwischen sachlicher politischer Rede und Antisemitismus in Bezug auf Zionismus, Israel und Palästina sind.

Definition der Fachstelle für Rassismusbekämpfung

Laut dem Bericht des Bundesrates von 2021 liefert die Fachstelle für Rassismusbekämpfung des Bundes FRB «die für die Schweizer Realität umfassendste Definition», indem sie die die Arbeitsdefinition der IHRA präzisiert, konkretisiert und erweitert. Auch die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus EKR und das Beratungsnetz für Rassismusopfer arbeiten mit dieser Definition. Die FRB beschreibt Antisemitismus als spezifisches Phänomen des Rassismus und als Oberbegriff für alle Formen von antijüdischen Haltungen und Einstellungen. Aufgrund einer religiösen Zugehörigkeit (auch Jüd*innenfeindlichkeit/Antijudaismus) werden jüdische Menschen häufig als Angehörige eines konstruierten oder realen Kollektivs betrachtet (auf die sich der Antisemitismus bezieht). Antisemitismus manifestiert sich in feindseligen Überzeugungen, Vorurteilen oder Stereotypen, welche jüdische Personen und Institutionen als grundlegend «anders» beschreiben, beleidigen, herabsetzen, ausgrenzen und benachteiligen. Die ablehnenden Vorstellungen beinhalten häufig auch historisch gewachsene und neu aufkommende Verschwörungstheorien. Antisemitismus zeigt sich in «hate crimes» und «hate speech», in Formen direkter, indirekter und struktureller Diskriminierung, sowie der Leugnung, Verharmlosung und Rechtfertigungsversuchen der Shoah.

Erfasste Fälle von Antisemitismus in der Schweiz

Auch wenn gewalttätiger Antisemitismus – in Form von Angriffen und Attentaten – in der Schweiz selten ist, fühlen sich jüdische Menschen in der Schweiz bedroht. Auch der Nachrichtendienst des Bundes NDB schätzt jüdische Gemeinschaften in der Schweiz als besonders schutzbedürftig ein.

Antisemitismus beginnt nicht erst bei gewalttätigen Handlungen oder diskriminierenden Forderungen. Meist liegt antisemitisches Gedankengut schon unbewusst zugrunde und äussert sich in stereotypen Meinungen und diffusen Vorurteilen. Diese nicht bewusst wahrgenommenen Einstellungen schaffen ein soziales Klima, in dem Witze und Anspielungen schrittweise antisemitische Einstellungen fördern, woraus später wiederhin Handlungen entstehen können. Diese zugrundeliegenden Einstellungen zeigen sich in der Umfrage zum Zusammenleben in der Schweiz des Bundesamtes für Statistik von 2020, nach der 8% der Schweizer Bevölkerung jüdischen Menschen gegenüber feindselig eingestellt sind und 22% Stereotypen gegenüber jüdischen Personen teilen.

Gemäss der Antisemitismusberichte für die französischsprachige und die deutsch- und italienischsprachige Schweiz kam es im Jahr 2021 gesamtschweizerisch zu einem Anstieg von antisemitischen Vorfällen. Der Grossteil davon (94 %) findet online statt. Während der Corona-Pandemie ist im Zusammenhang mit der Suche nach Sündenböcken die Verbreitung von antisemitischen Äusserungen und Verschwörungstheorien stark angestiegen. Auch Leugnungen des Holocausts haben 2021 gesamtschweizerisch zugenommen. Israelbezogene antisemitische Äusserungen kamen bei Vorfällen im Israel-Palästina-Konflikt sprunghaft auf.

Rechtliche Grundlagen in der Schweiz

Mit der Rassismusstrafnorm (Art. 261bis StGB) wurde in der Schweiz 1993 die Diskriminierung aufgrund der Religionszugehörigkeit unter Strafe gestellt. Dazu gehören öffentliche Aufrufe zu Hass oder Diskriminierung, die Verbreitung von rassistischen Ideologien, die Herabsetzung sowie die Verweigerung von Leistungen und die Leugnung von Völkermorden. In Fällen, in denen die Rassismusstrafnorm verletzt wurde, waren zwischen 1995 und 2020 mit 25 Prozent jüdische Personen die häufigsten Opfer und in 22 Prozent der Fälle lag eine antisemitische Ideologie zugrunde. Zwischen 1995 und 2019 kam es zu 73 Fällen von Leugnungen der Shoah, womit dies die überwiegende Mehrheit der Fälle der Völkermordleugnungen ausmacht.

Werden antisemitische Äusserungen und Handlungen nicht öffentlich gemacht, gelten sie in der Schweiz nicht als strafbar. Dies ist auch der Fall, wenn andere rechtliche Erfordernisse fehlen. Auch wenn die Handlungen und Aussagen teilweise nicht strafbar sind, können sie trotzdem antisemitisch (oder rassistisch) sein oder/und antisemitische Vorurteile begünstigen.

Ungenügendes Verbot rassistischer und antisemitischer Symbole

Laut Art. 261bis StGB sind antisemitische Symbole nur verboten, «wenn damit eine (werbende) Verbreitung rassistischer Ideologien, ein Aufreizen zu rassistischer Diskriminierung oder eine rassistische Herabsetzung einer spezifischen Person oder Personengruppe stattfindet». Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus kritisiert, dass die Strafverfolgungsbehörden diese Strafnorm jedoch sehr eng auslegen und die Zurschaustellung von nationalsozialistischen und antisemitischen Symbolen – wie von Hakenkreuzen oder dem Hitlergruss – in der Schweiz häufig nicht zu Verurteilungen führt. Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus spricht sich deshalb für ein generelles Verbot von rassistischen Symbolen aus.

Verpflichtungen aus internationalen Menschenrechtsabkommen

Die Schweiz hat jüdische Menschen in der Schweiz 1998 mit der Ratifizierung des Europäischen Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten als nationale Minderheiten anerkannt. Nach dem Abkommen ist die Diskriminierung von nationalen Minderheiten verboten (Art. 4 Abs. 1) und Bund und Kantone haben eine Schutzpflicht gegenüber jüdischen Institutionen und Personen vor gewalttätigen Handlungen (Art. 6 Abs.2).

Die Schweiz muss laut dem von ihr ratifizierten UNO-Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes auch gegen unmittelbare und öffentliche Anreizungen zur Begehung von Völkermord vorgehen (Art. III Ziff. c).

Alle fünf Jahre verfasst die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz zudem einen Länderbericht über die Schweiz, welcher auch das Schweizer Vorgehen gegen Antisemitismus beinhaltet.

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