07.03.2022
Der Inhalt der Individualbeschwerde ist in Art. 47 der Gerichtsordnung detailliert geregelt. Es ist wichtig, dass die Voraussetzungen von Art. 47 der Gerichtsordnung strikt eingehalten werden. Ansonsten droht eine Beschwerde bereits in der administrativen Phase zu scheitern. Insbesondere gilt die viermonatige Beschwerdefrist nach Art. 35(1) EMRK nur dann als eingehalten, wenn das eingereichte Beschwerdeformular vollständig ist.
Kurze Videoeinführung zur Einreichung einer Beschwerde beim EGMR:
Beschwerdeformulare
Beschwerden an den Gerichtshof sind unter Verwendung des von der Kanzlei des Gerichtshofs («Registry») zur Verfügung gestellten Formulars einzureichen.
Die Beschwerde muss schriftlich eingereicht und von dem/der Beschwerdeführer*in oder ihres/ihrer Vertreter*in unterzeichnet werden (Art. 45(1) der Gerichtsordnung). Bei Beschwerden nichtstaatlicher Organisationen oder einer Personengruppe ist diese von der zu deren Vertretung berechtigten Personen zu unterzeichnen (Art. 45(2) der Gerichtsordnung).
Sprache
Die Amtssprachen des Gerichtshofs sind Englisch und Französisch (Art. 34(1) der Gerichtsordnung).
Bevor die Beschwerde einer Vertragspartei zur Kenntnis gebracht wurde, erfolgt die Kommunikation mit dem/der Beschwerdeführer*in oder deren Vertreter*in mündlich wie schriftlich in einer Amtssprache der Vertragsparteien (Art. 34(2) der Gerichtsordnung). Das Beschwerdeformular an den EGMR kann demnach in einer Amtssprache einer Vertragspartei eingereicht werden.
In der Schweiz können Beschwerdeschriften also in französischer, deutscher, italienischer oder rätoromanischer Sprache verfasst werden.
Nachdem die Beschwerde der beschwerdegegnerischen Vertragspartei zur Kenntnis gebracht wurde, erfolgen mündliche und schriftliche Kommunikation und demnach insbesondere auch sämtliche Stellungnahmen in einer der Amtssprachen des Gerichtshofs (Art. 34(3)(a) der Gerichtsordnung).
Inhalt individueller Beschwerden
Die Beschwerdeführer*innen oder deren Vertreter*in müssen das Beschwerdeformular sorgfältig und komplett ausfüllen. Dem Beschwerdeformular sind sämtliche notwendigen Dokumente gemäss Art. 47 der Gerichtsordnung beizulegen.
Die einschlägigen Abschnitte des Beschwerdeformulars verlangen sämtliche Auskünfte mit folgenden Angaben:
- Natürliche Person: Name, Geburtsdatum, Staatsangehörigkeit und Adresse des Beschwerdeführers
- Juristische Person: vollständiger Name, Datum der Errichtung oder Eintragung im Register, amtliche Registernummer, offizielle Adresse
(!) Juristische Personen müssen von einer zu deren Vertretung befugten Person vertreten werden. Diese Vertretungsbefugnis ist an der dafür bezeichneten Stelle im Beschwerdeformular nachzuweisen. Diese Vertretung der juristischen Person ist von deren rechtlicher Vertretung vor dem EGMR durch eine Rechtsanwält*in zu unterscheiden. - Bei Vertretung: Name, Adresse, Telefon- und Telefaxnummern und E-Mail-Adresse der Vertretung
- Bei Vertretung durch eine(n) Rechtsanwält*in: Datum und Originalunterschrift des/der Beschwerdeführer*in im Feld des Beschwerdeformulars zur Vollmacht, Originalunterschrift der Vertreter*in (zur Bestätigung der Bereitschaft, im Namen des Beschwerdeführers zu handeln)
(!) Eine separate Vollmacht ist ausdrücklich nicht beizulegen! - Vertragspartei oder Vertragsparteien, gegen die sich die Beschwerde richtet
- Gedrängte und verständliche Darstellung des Sachverhalts
- Gedrängte und verständliche Darstellung der behaupteten Verletzungen der EMRK mit Begründung
- Gedrängte und verständliche Darstellung, in der die Erfüllung der Zulässigkeitskriterien dargelegt wird (Art. 35(1) EMRK)
Wichtig ist, diese Angaben derart ausreichend auszuführen, dass der Gerichtshof Art und Gegenstand der Beschwerde bestimmen kann, ohne Einsicht in weitere Unterlagen zu nehmen.
Diese Informationen können allerdings ergänzt werden. Dem Beschwerdeformular darf ein Schriftstück von höchstens 20 Seiten beigefügt werden. Darin können zusätzliche Angaben zum Sachverhalt und zu den geltend gemachten Verletzungen der EMRK mit Begründung gemacht werden. Diese Angaben dienen einer detaillierteren Ausführung der im Beschwerdeformular enthaltenen Informationen. Nicht zulässig sind hingegen neue Informationen, etwa zum Sachverhalt oder den gerügten Konventionsverletzungen.
Nicht akzeptiert wird, wenn die Beschreibung des Sachverhalts, der geltend gemachten Konventionsverletzungen oder der Informationen betreffend die Erfüllung der Zulässigkeitskriterien lediglich dem Beschwerdeformular angehängt werden. Dies gilt auch, wenn im Beschwerdeformular auf den Anhang verwiesen wird.
Schliesslich ist das Beschwerdeformular von dem/der Beschwerdeführer*in oder dessen/deren Vertreter*in zu unterzeichnen.
- Merkblatt zur Einreichung der Beschwerde (nur englisch)
(einschliesslich der Formatierungsvorgaben für zusätzliche Schriftstücke)
Dem Beschwerdeformular sind beizulegen:
- Kopien der Unterlagen in Bezug auf die gerügten gerichtlichen oder sonstigen Entscheidungen oder Massnahmen
- Kopien der Unterlagen und Entscheidungen, die belegen, dass der/die Beschwerdeführer*in die innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft und die in Art. 35(1) EMRK vorgeschriebene Frist beachtet hat
- Gegebenenfalls Kopien der Unterlagen in Bezug auf andere internationale Untersuchungs- oder Schlichtungsverfahren
- Bei juristischen Personen: Dokument(e), die belegen, dass die Person, die die Beschwerde einreicht, zur Vertretung des/der Beschwerdeführer*in befugt ist oder eine entsprechende Vollmacht innehat
Diese Unterlagen müssen:
- chronologisch sortiert,
- mit fortlaufenden Nummern gekennzeichnet,
- in einem Verzeichnis aufgeführt und
- eindeutig zu identifizieren
sein.
Wichtig ist, dass eine unvollständige Beschwerde grundsätzlich nicht geprüft wird. Wird die Beschwerde als Unvollständig abgewiesen, werden das Beschwerdeformular sowie sämtliche Beilagen zerstört. Die Nachreichung fehlender Dokumente oder die Zustellung eines Schreibens mit fehlenden Informationen sind daher nicht ausreichend. Vielmehr muss die Beschwerde, einschliesslich des vollständig ausgefüllten Beschwerdeformulars sowie sämtliche Beilagen, komplett neu eingereicht werden. Die Einreichung der Beschwerde mit genügend Zeit vor Ablauf der viermonatigen (bisher sechsmonatigen) Beschwerdefrist ist daher empfehlenswert.
Bei Einreichung der Beschwerde fallen keine Gebühren an.
- Detaillierte Schritt-für-Schritt Anleitung zum Ausfüllen des Beschwerdeformulars (englisch)
- Häufig gemachte Fehler beim Ausfüllen und Einreichen des Beschwerdeformulars (englisch)
- Aktueller Text des Artikels 47 der Gerichtsordnung (deutsch)
- Beispiel für eine eingereichte Beschwerde
Duarte Agostinho and Others v. Austria and Others - Beispiel für eine eingereichte Beschwerde aus der Schweiz
Klimaseniorinnen v. Switzerland
Anonymisierungs- und Vertraulichkeitsbegehren
Die mit der Beschwerde eingereichten Unterlagen sind der Öffentlichkeit grundsätzlich zugänglich (Art. 33 und Art. 47 der Gerichtsordnung).
Sofern eine Anonymisierung gewünscht ist, ist diese im Beschwerdeformular oder so bald als möglich zu beantragen und zu begründen. Der Gerichtshof entscheidet über das Anonymisierungsbegehren. Er ist für die Anonymisierung sämtlicher öffentlich zugänglicher Dokumente verantwortlich.
Mit einem Antrag auf Vertraulichkeit kann überdies verlangt werden, dass sämtliche oder Teile der eingereichten Unterlagen der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden sollen. Vom Öffentlichkeitsprinzip kann insbesondere zum Schutz der Interessen von Jugendlichen oder des Privatlebens betroffener Personen abgewichen werden (Art. 33(2) der Gerichtsordnung).
Mehrere Beschwerdeführer*innen
Ein(e) Rechtsvertreter*in, der/die für verschiedene Beschwerdeführer*innen Beschwerden basierend auf unterschiedlichen Sachverhalten einreicht, hat dafür je ein separates Beschwerdeformular zu verwenden.
Bei mehr als zehn Beschwerdeführer*innen ist neben dem Beschwerdeformular und den dazugehörenden Dokumenten eine Tabelle mit identifizierenden Informationen zu den einzelnen Beschwerdeführer*innen einzureichen.
Schriftverkehr mit der Kanzlei des Gerichtshofs
Auch bei mehreren Beschwerdeführer*innen kommuniziert die Kanzlei des Gerichtshofs ausschliesslich mit einem/einer Beschwerdeführer*in bzw. mit einem/einer Rechtsvertreter*in.
Im Schriftverkehr mit der Kanzlei ist auf Antwort innert der gesetzten Frist zu achten. Eine zu spät oder nicht beantwortete Mitteilung kann als Zeichen der Absicht, eine Beschwerde nicht weiter verfolgen zu wollen, gedeutet werden (Art. 37(1)(a) der EMRK).
Die Kanzlei ist prompt über Adressänderungen sowie relevante Entwicklungen bezüglich einer Beschwerde (z.B. Gerichtsentscheide oder weitere Vorfälle) zu unterrichten.
kontakt
Marianne Aeberhard
Leiterin Projekt Zugang zum Recht / Geschäftsleiterin
marianne.aeberhard@humanrights.ch
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