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Zulässigkeitsvoraussetzungen

07.03.2022

Sobald eine vollständige Beschwerde registriert wurde, wird die Erfüllung der Zulässigkeitsvoraussetzungen geprüft. Eine Beschwerde kann in jedem Verfahrensstadium aufgrund der Nichterfüllung der Zulässigkeitsvoraussetzungen abgewiesen werden.

Die Zulässigkeitsvoraussetzungen sind in Art. 35 der EMRK geregelt.

Checkliste prozedurale Zulässigkeitsvoraussetzungen

Erschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe:

  • Beurteilt gemäss der innerstaatlich anwendbaren prozessualen Normen (also gemäss kantonaler oder eidgenössischer Verfahrensvorschriften im Verwaltungsverfahren, der Strafprozessordnung in Strafsachen oder der Zivilprozessordnung in Zivilprozessen).
  • Bei mehreren möglichen Rechtsbehelfen hat der/die Beschwerdeführer*in den geeignetsten auszuwählen.
  • Während die explizite Berufung auf ein Konventionsrecht im innerstaatlichen Beschwerdeverfahren nicht notwendig ist, muss eine solche Rechtsverletzung wenigstens der Sache nach («at least in substance») geltend gemacht worden sein.
  • Die Rechtsbehelfe müssen zugänglich oder verfügbar und effektiv sein.

Einhaltung der viermonatigen (vormals sechsmonatigen) Beschwerdefrist:

  • Die Frist beginnt grundsätzlich mit Kenntnis, Zustellung bzw. Veröffentlichung der endgültigen Entscheidung der höchsten innerstaatlichen Instanz. 
  • Werden das vollständig ausgefüllte Beschwerdeformular sowie sämtliche zusätzlich notwendigen Unterlagen mit Absendedatum innert der viermonatigen Beschwerdefrist versendet, gilt die Frist als gewahrt.

Anonyme Beschwerden:

  • Anonyme Beschwerden werden abgewiesen.

Im Wesentlichen übereinstimmende Beschwerde:

  • Eine Beschwerde, die im Wesentlichen mit einer schon vorher vom Gerichtshof geprüften Beschwerde übereinstimmt oder schon einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz unterbreitet worden ist und keine neuen Tatsachen enthält, wird abgewiesen.
  • Bei der Beurteilung dieser Zulässigkeitsvoraussetzungen stützt sich der Gerichtshof insbesondere auf die Parteien der betreffenden Beschwerdeverfahren, die geltend gemachten einschlägigen Normen, die Reichweite ihrer Beschwerde und die Art der erstrebten Wiedergutmachung.

Missbrauch des Beschwerderechts:

  • Als Missbrauch des Beschwerderechts gilt die schädliche Ausübung eines Rechts zu anderen Zwecken als für die, die es bestimmt ist. Entsprechend ist jedes Verhalten eines/einer Beschwerdeführer*in, das offensichtlich dem Zweck des Individualbeschwerderechts der Konvention widerspricht und welches die ordnungsgemässe Arbeitsweise des Gerichtshofs oder die ordnungsgemässe Führung des Verfahrens behindert, ein Missbrauch des Beschwerderechts.
  • Insbesondere zählen dazu die Irreführung des Gerichtshofs, die Verwendung beleidigender Formulierungen, die Verletzung des Grundsatzes der Vertraulichkeit des Verfahrens, das auf eine gütliche Einigung gerichtet ist, offensichtlich querulatorische oder keinen vernünftigen Zweck verfolgende Beschwerden.

Checkliste Zulässigkeitsvoraussetzungen, die sich auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs beziehen

Unzuständigkeit ratione personae:

  • Individualbeschwerden können von jeder (lebenden) natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe eingereicht werden, die behaupten, durch eine Vertragspartei in einem der in der EMRK oder den Protokollen anerkannten Rechten verletzt zu sein. 
  • Die betreffende Person, nichtstaatliche Organisation oder Personengruppe muss die Opfereigenschaft erfüllen.
  • Der Begriff «Opfer» bezeichnet die Person oder die Personen, welche von der behaupteten Verletzung direkt oder indirekt betroffen sind.
  • Als «direktes Opfer» und damit beschwerdeberechtigt gilt, wer durch die angegriffene Massnahme «unmittelbar betroffen» ist.
  • Als «indirektes Opfer» und damit ebenfalls beschwerdeberechtigt gilt, wer ein ausreichendes rechtliches Interesse hat, eine Rechtsverletzung zu rügen. Dazu gehören beispielsweise die nächsten Angehörigen eines Verstorbenen, dessen Tod angeblich die Verantwortlichkeit des Staates begründet.
  • In ganz bestimmten Situationen hat der Gerichtshof akzeptiert, das potentielle Opfer ebenfalls beschwerdeberechtigt sind. Der/die Beschwerdeführer*in muss vernünftige und überzeugende Beweise dafür beibringen, dass eine Verletzung erfolgen wird, welche ihn/sie persönlich trifft. Ein blosser Verdacht oder eine Vermutung reichen nicht aus.

Unzuständigkeit ratione materiae:

  • Die Verletzung des Rechts, auf das sich ein(e) Beschwerdeführer*in beruft, muss von der Konvention und den für die Schweiz als Beschwerdegegnerin verbindlichen Zusatzprotokollen geschützt sein.

Unzuständigkeit ratione loci:

  • Die örtliche Zuständigkeit setzt voraus, dass die behauptete Konventionsverletzung innerhalb der Zuständigkeit des betroffenen Vertragsstaates oder in einem von diesem effektiv kontrollierten Gebiet erfolgt.
  • Wenn sich eine Beschwerde auf Ereignisse stützt, die ausserhalb des Staatsgebiets eines Vertragsstaats erfolgten und keine Verbindung zwischen den Ereignissen und einem Hoheitsträger des Vertragsstaats ausgemacht werden kann, wird die Beschwerde als unvereinbar ratione loci zurückgewiesen.

Unzuständigkeit ratione temporis:

  • Die geltend gemachte Rechtsverletzung muss nach der Ratifizierung der Konvention oder des einschlägigen Zusatzprotokolls stattgefunden haben.

Checkliste materielle Zulässigkeitsvoraussetzungen

Offensichtlich unbegründete Beschwerde:

  • Eine Beschwerde, die nach einer vorläufigen Prüfung offensichtlich unbegründet ist, wird abgewiesen.
  • Eine offensichtliche Unbegründetheit liegt insbesondere vor:
    a) Bei einer sog. «Vierte-Instanz» Beschwerde: Der EGMR ist kein Berufungsgericht oder Gericht, das Entscheidungen von innerstaatlichen Gerichten aufheben oder Verfahren wieder aufrollen kann. Die Befugnisse des EGMR beschränken sich auf die Sicherstellung der Einhaltung der Verpflichtungen, die sich aus der EMRK und deren Zusatzprotokollen ergeben. Der Gerichtshof kann damit insbesondere nicht die Feststellung des Sachverhalts, die Interpretation nationalen Rechts oder die Schuld oder Unschuld eines Angeklagten im Strafverfahren eines innerstaatlichen Gerichts in Frage stellen.
    b) Bei einer offensichtlichen Nicht-Verletzung der Konvention. Eine solche liegt insbesondere vor, wenn
    • Kein Anschein von Willkür oder fehlender Fairness besteht;
    • Kein Anzeichen fehlender Verhältnismässigkeit zwischen den Zielen und Mitteln vorhanden ist;
    • Die Beschwerde andere relativ klare materielle Fragen betrifft.
    c) Wenn die Beschwerde nicht mit Beweisen substantiiert wird.
    d) Bei verworrenen oder abwegigen Beschwerden.

Kein erheblicher Nachteil:

  • Die Verletzung eines Rechts muss einen gewissen Schweregrad erreichen. 
  • Die Feststellung dieses Minimalstandards ist relativ und wird mit Bezug auf sämtliche Umstände einer Beschwerde beurteilt. Berücksichtigt werden dabei sowohl die subjektive Wahrnehmung des/der Beschwerdeführer*in als auch die objektive Schwere einer Verletzung.
  • Erhebliche Nachteile können finanzieller oder nicht-finanzieller Natur sein.
  • Grundsätzlich gilt ein finanzieller Nachteil von ungefähr EUR 500 oder weniger als nicht erheblich.
  • Eine Rechtsverletzung kann wichtige Grundsatzfragen betreffen und damit unabhängig vom finanziellen Interesse einen erheblichen Nachteil begründen.

Sofern kein erheblicher Nachteil vorliegt, kann eine Beschwerde dennoch zulässig sein, wenn die Achtung der Menschenrechte eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde erfordert.

kontakt

Marianne Aeberhard
Leiterin Projekt Zugang zum Recht / Geschäftsleiterin

marianne.aeberhard@humanrights.ch
031 302 01 61
Bürozeiten: Mo/Di/Do/Fr

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