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Der EGMR verurteilt die Türkei wegen der unrechtmässigen Inhaftierung zweier Journalisten

25.04.2018

Durch die Inhaftierung der beiden regierungskritischen Journalisten Mehmet Hasan Altan und Şahin Alpay im Juli 2016 verstiess die Türkei gegen deren Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10 EMRK) und deren Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK). Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Rahmen zweier Urteile gegen die Türkei vom 20. März 2018.

Sachverhalt

Nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei vom 15 Juli 2016 wurden die beiden Journalisten Mehmet Hasan Altan und Şahin Alpay von den türkischen Behörden verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. Ihnen wurde vorgeworfen, Mitglieder der - von der türkischen Regierung als terroristische Organisation eingestuften - Gülen-Bewegung zu sein und versucht zu haben, die verfassungsmässige Ordnung der Türkei zu stürzen. Beide Journalisten hatten sich im Vorfeld des Putschversuchs in diversen Artikeln und Fernsehinterviews regierungskritisch geäussert.

Nach ihrer Verhaftung rügten die beiden Journalisten zunächst erfolglos die Verletzung ihres Rechts auf freie Meinungsäusserung und ihres Rechts auf Freiheit und Sicherheit. Erst vor dem türkischen Verfassungsgericht bekamen die beiden Journalisten schliesslich recht und hätten demnach aus der Untersuchungshaft entlassen werden müssen. Die Vorinstanz weigerte sich jedoch, das Urteil des türkischen Verfassungsgerichts umzusetzen und behielt die beiden Beschwerdeführer weiterhin in Untersuchungshaft.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat sich in der Folge mit den beiden Fällen (Fall Nr. 16538/17 und Fall Nr. 13237/17) befasst und die Türkei am 20. März 2018 schliesslich wegen der Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und Art. 10 EMRK (Meinungsäusserungsfreiheit) verurteilt. Die beiden Urteile sind u.a. deshalb von besonderem Interesse, weil die Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch von ihrem Recht Gebrauch gemacht hat, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) vorübergehend ausser Kraft zu setzen (Art. 15 EMRK).

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK

Der EGMR untersuchte eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) unter Berücksichtigung der Umstände, dass das türkische Verfassungsgericht eine Verletzung festgestellt und die untere Instanz das Urteil nicht umgesetzt hat, sprich: die Beschwerdeführer nicht freigelassen hat. Der EGMR stützt das Urteil des türkischen Verfassungsgerichts und erkennt, dass die Weigerung der Entlassung aus der Untersuchungshaft nicht als «lawful and in accordance with a procedure prescribed by law as required by the right to liberty and security» bezeichnet werden kann. Die Weigerung der Freilassung der Beschwerdeführer durch die Vorinstanz stelle in sich bereits eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 EMRK dar, da es sich dabei um einen Verstoss gegen die türkische Rechtsordnung handle, wonach Entscheiden des türkischen Verfassungsgerichts bindende Wirkung entfalten. Zudem sei die Missachtung eines höchstinstanzlichen Urteils zugleich ein Verstoss gegen das Willkürverbot, welches allen Menschenrechten der EMRK inhärent ist.

Auch bezüglich der Derogation der EMRK kommt der EGMR zum gleichen Schluss wie das türkische Verfassungsgericht: Wäre die Anordnung der Untersuchungshaft ohne das Vorhandensein von effektiven Beweisen (strong evidence) möglich, so wäre das Recht auf Freiheit und Sicherheit bedeutungslos geworden. Somit sei die Anordnung der wiederrechtlichen Untersuchungshaft auch im Kontext der speziellen Umstände nicht als verhältnismässig einzustufen.

Verletzung von Art. 10 EMRK

Der EGMR stützt auch diesbezüglich die Auffassung des türkischen Verfassungsgerichts, welches eine Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäusserung festgestellt hatte. Eine Beschränkung des Rechts auf freie Meinungsäusserung sei nur dann gerechtfertigt, wenn die folgenden drei Kriterien erfüllt sind:

(1) Abstützung der Beschränkung auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage: Grundsätzlich sei eine gesetzliche Grundlage für eine Beschränkung der freien Meinungsäusserung in der Türkei gegeben, allerdings bestünden ernsthafte Zweifel daran, ob die Beschwerdeführer die Anordnung der Untersuchungshaft aufgrund der türkischen Rechtsordnung hätten vorhersehen können. Das Vorhandensein einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage sei von den involvierten Parteien jedoch nicht gerügt worden, weshalb der EGMR auf diesen Aspekt nicht abschliessend zu prüfen brauchte.

(2) Verfolgung eines legitimen Zwecks: Der EGMR akzeptiert die Begründung der türkischen Regierung, dass die Inhaftierung der Beschwerdeführer im Hinblick auf die Bekämpfung von Unruhe und Kriminalität erfolgte und somit einen legitimen Zweck diente.

(3) Verhältnismässigkeit: Die Untersuchungshaft der Beschwerdeführer aufgrund ihrer geäusserten Meinung stellt eine schwerwiegende Massnahme dar, welche der EGMR in einer demokratischen Gesellschaft als nicht notwendige und verhältnismässige Beschränkung von Art. 10 EMRK einstuft. Eine Beschränkung des Rechts auf freie Meinungsäusserung sei nur möglich, wenn zu gewalttätigem Verhalten aufgerufen werde. Dies treffe auf die Beschwerdeführer nicht zu, wonach deren Inhaftierung nicht einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entspreche. Zumal eine derartige Beschränkung des Rechts auf freie Meinungsäusserung – ohne konkrete Beweise für ein strafbares Verhalten - einen «chilling effect» auf die freie Meinungsäusserung und die Presse haben könne. Der EGMR stellt demnach eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest. Insbesondere könne diese nicht durch die vorübergehende Ausser-Kraft-Setzung (Derogation) der EMRK gerechtfertigt werden, da eine Notstandssituation nicht dazu missbraucht werden dürfe, die freie Meinungsäusserung – welche der EGMR als Grundstein einer demokratischen Gesellschaft erachtet – stärker als erforderlich zu beschränken. Gerade in einer Notstandssituation müsse ein Vertragsstaat alles Notwendige unternehmen, um die Werte einer demokratischen Gesellschaft zu schützen.

Voraussetzung der Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs

Der EGMR beschäftigte sich in den beiden vorliegenden Fällen mit der Frage, ob die Voraussetzung des Vorliegens einer endgültigen innerstaatlichen Entscheidung zur Einreichung einer Beschwerde vor dem EGMR auch dann zur Anwendung kommt, wenn Zweifel an der Unabhängigkeit und Effektivität des innerstaatlichen Justizsystems bestehen. Zwar lag im Falle der beiden Journalisten ein letztinstanzliches Urteil des türkischen Verfassungsgerichts vor, dieses wurde von der unteren Instanz allerdings ignoriert. Gemäss dem EGMR verstösst dies gegen fundamentale Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit.

Rechtsmittel auf nationaler Ebene sind gemäss EMRK grundsätzlich nur dann zu ergreifen, wenn sie effektiv sind, daher eine Verletzung von Konventionsrechten beseitigen können. Sofern dies in einem konkreten Fall von Bedeutung ist, muss dem Rechtsmittel zudem aufschiebende Wirkung zukommen. Treffen diese Voraussetzungen zu, muss der innerstaatliche Instanzenzug durchschritten werden, bevor Beschwerde beim EGMR geführt werden kann. Dieses Zulässigkeitskriterium macht durchaus Sinn, denn es ist grundsätzlich die Pflicht der Vertragsstaaten, Konventionsrechte in ihrem Hoheitsgebiet umzusetzen und allfällige Verstösse einer gerichtlichen Überprüfung zukommen zu lassen. In praktischer Hinsicht dient dieses Zulässigkeitskriterium zudem dazu, die bereits beträchtliche Anzahl von Fällen vor dem EGMR nicht übermässig ansteigen zu lassen.

In den beiden vorliegenden Fällen hält der EGMR diesbezüglich fest, dass die fortdauernde Untersuchungshaft – entgegen dem Urteil des türkischen Verfassungsgerichts – ernsthafte Zweifel an der Effektivität einer erneuten Beschwerde an das türkische Verfassungsgericht aufkommen lasse. Trotzdem hält der EGMR an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, wonach er das Recht auf Beschwerdeführung betreffend Freiheitsentzug vor dem türkischen Verfassungsgericht als effektives Rechtsmittel erachtet. Bereits Ende 2017 wies der EGMR mehr als 27'000 Beschwerden türkischer Staatsangehöriger als unzulässig zurück, weil der innerstaatliche Instanzenzug nicht ausgeschöpft worden sei. Im Jahresbericht 2017 hält der EGMR diesbezüglich fest: «[...] subsidiarity is the cornerstone of our system and requires domestic remedies to be exhausted. Such remedies must, however, be effective, one relevant factor being the length of the proceedings. Time will tell whether the remedy in question satisfies this criterion.»

Eine Bemerkung zum Ausnahmezustand

Grundsätzlich ist eine vorübergehende ausser Kraft Setzung (Derogation, u.a. Art. 15 EMRK) der Menschenrechte – wie sie die Türkei vorgenommen hat - nur dann möglich, wenn u.a. eine echte Notstandssituation vorliegt und die Derogationsmassnahmen von beschränkter Dauer sind. Die Vertragsstaaten geniessen diesbezüglich einen relativ grossen Ermessensspielraum, müssen dabei jedoch stets das Verhältnismässigkeitsprinzip beachten.

Ausgerufen wurde der Notstand von den türkischen Behörden am 20 Juli 2016 für einen Zeitraum von drei Monaten und wurde seither für jeweils 3 Monate verlängert, zuletzt am 19. Januar 2018. Es geht demnach mittlerweile um einen Zeitraum von rund 21 Monaten. Ob damit das Kriterium der zeitlichen Begrenztheit immer noch erfüllt ist, erscheint zumindest fraglich. Gleiches gilt für das Vorliegen einer echten und aktuellen Notstandssituation. Leider hat der EGMR diese Fragestellungen in den beiden Urteilen vom 20. März 2018 nicht beantwortet Dies ist bedauerlich, denn der der Gerichtshof hält in den Urteilen selbst fest, «that States do not enjoy an unlimited discretion in this respect».

Dokumentation