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Vorsorgliche Massnahmen in Zusammenhang mit Individualverfahren

12.04.2005

Mamatkulov und Askarov gegen die Türkei

Urteil der Grossen Kammer vom 4. Februar 2005 (pdf, französisch, 63 S.)

Urteil der Kleinen Kammer vom 6. Februar 2003 (pdf, englisch, 45 S.)

Verletzung von Art. 34 EMRK

Individualbeschwerden an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kommt keine aufschiebende Wirkung zu. Dies kann in gewissen Konstellationen jedoch gravierende Folgen haben und deshalb sieht Art. 39 der Verfahrensordnung des EGMR vor, dass der EGMR den Parteien jene vorsorglichen Massnahmen empfehlen kann, die im Interesse der Parteien oder eines ordnungsgemässen Verfahrensablaufs ergriffen werden sollten. Solche vorsorglichen Massnahmen, welche von den Staaten in aller Regel befolgt werden, galten bislang nicht als rechtlich bindende Verpflichtungen. Dies namentlich deshalb, weil derartige Anordnungen bis zum Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls von der Europäischen Kommission für Menschenrechte empfohlen wurden und diese keine rechtlich bindenden Entscheide fällen konnte.

Der EGMR hat nunmehr entschieden, dass vorsorgliche Massnahmen auch im Rahmen des Strassburger Verfahrens für die Vertragsstaaten bindend sind. Er stützte sich dabei auf Art. 34 EMRK, das Recht auf Individualbeschwerde. Im konkreten Fall prüfte die Grosse Kammer – das erstinstanzliche Urteil der Kammer war an die Grosse Kammer verwiesen worden – ob die Türkei Art. 34 verletzt habe, weil sie trotz der Empfehlung vorsorglicher Massnahmen die beiden usbekischen Beschwerdeführer nach Usbekistan ausgeliefert hatte. Der EGMR anerkannte zwar, dass er in zwei früheren Fällen zum Schluss gekommen war, dass weder aus Art. 34 EMRK noch aus einer anderen Bestimmung der EMRK die Rechtsverbindlichkeit von vorsorglichen Massnahmen abgeleitet werden könnte. Aufgrund der Berücksichtigung allgemeiner völkerrechtlicher Grundsätze sowie der Praxis anderer internationaler Organe kam er jedoch im vorliegenden Fall zum Schluss, dass die Nichtbeachtung vorsorglicher Massnahmen die wirksame Ausübung des Individualbeschwerderrechtes verhindern könne und daher die Nichtbeachtung solcher Massnahmen einer Verletzung von Art. 34 EMRK gleichkomme.