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Nachweis der dauerhaften Fortpflanzungsunfähigkeit darf für eine Geschlechtsangleichung nicht gefordert werden

16.11.2015

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte die Türkei, weil sie einer trans Person über Jahre hinweg den Zugang zu einer geschlechtsangleichende Operation versagte. Der EGMR sah darin eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens).

Der Beschwerdeführer, türkischer Nationalität, war 1981 im Körper einer Frau geboren und als Frau registriert worden, fühlte sich aber bereits als Kind mehr als Junge denn als Mädchen. 2005 beantragte er beim zuständigen Gericht in Mersin die Erlaubnis zur Angleichung seines Geschlechts. Das Gericht veranlasste daraufhin ein psychiatrisches Gutachten, um herauszufinden, ob der Gesuchsteller eine trans Person sei und ob die Geschlechtsangleichung nötig sei, um die psychische Gesundheit des Beschwerdeführers langfristig zu sichern. Ebenfalls verlangte es Auskunft darüber, ob Y.Y. dauerhaft unfruchtbar sei.

2006 bejahten verschiedene psychiatrische Berichte seine Transidentität und bestätigten, dass es für Y.Y. besser sei, wenn er als Mann leben könnte. Im Juni 2006 lehnte das Gericht dennoch das Gesuch von Y.Y. ab, weil er nicht dauerhaft unfruchtbar sei und damit die gesetzlichen Voraussetzungen (Art. 40 des türkischen Zivilgesetzbuches) nicht erfülle. Diesen Entscheid focht Y.Y. ohne Erfolg beim Kassationsgericht mit der Begründung an, dass die Bedingung, die Unfruchtbarkeit belegen zu müssen, seine Grundrechte verletze. Am 6. März 2008 erhob Y.Y. Beschwerde beim EGMR.

Im März 2013 stellte der Beschwerdeführer erneut ein Gesuch an das Bezirksgericht von Mersin, welchem im Mai 2013 stattgegeben wurde. Das heisst, Y.Y wurde in diesem Zeitpunkt die Erlaubnis zur geschlechtsangleichenden Operation erteilt.

Der EGMR stellt in seinem Urteil klar, dass die Freiheit des Beschwerdeführers, sein Geschlecht anzupassen, ein wesentlicher Bestandteil des Rechts auf Selbstbestimmung darstelle. Der Gerichtshof habe verschiedentlich festgehalten, dass er sich der Ernsthaftigkeit der Probleme, welche trans Personen begegnen, bewusst sei und es sei nötig, diesbezügliche rechtlichen Massnahmen auf ihre Angemessenheit zu überprüfen. Das Recht von trans Personen auf persönliche Entwicklung und physische und moralische Integrität sei unbestritten. Dies gehe unter anderem aus Resolutionen des Ministerkomitees des Europarates (Empfehlung CM/REec(2010)5 von 2010) und auch der Parlamentarische Versammlung hervor.

Nicht nachvollziehbar erachtete der EGMR, weshalb die Türkei als Voraussetzung für die geschlechtsangleichende Operation den Nachweis der Unfruchtbarkeit, welcher nota bene nur durch eine Sterilisation zu erbingen sei, verlange. Da die Türkei keine ausreichenden Argumente haben vorbringen können, um die Verweigerung der geschlechtsangleichenden Operation ausreichend zu begründen und der Eingriff in das Recht auf Schutz seines Privatlebens in einer demokratischen Gesellschaft nicht als «notwendig» im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK erachtet werden könne, erkannte er in der Verweigerung der geschlechtsangleichenden Operation eine Verletzung der EMRK.

Kommentar

Entschieden hat der EGMR im Fall Y.Y. gegen die Türkei, dass für den Zugang zu einer geschlechtsangleichenden Operation keine Sterilisation gefordert werden darf. Noch ausstehend ist ein Urteil darüber, ob die weitverbreitete Praxis, für die rechtliche Anerkennung des Geschlechts die Sterilisation zu verlangen, mit der EMRK zu vereinbaren ist. Dazu wird sich der EGMR in nächster Zukunft zu äussern haben, denn zumindest drei entsprechende Beschwerden sind ihm aus Frankreich vorgelegt worden (A.P. v. France, Beschwerde-Nr. 79885/12; Garçon v. France, Beschwerde-Nr. 52471/13 und Nicot v. France, Beschwerde-Nr. 52596/13).