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Die Türkei verletzt die Religionsfreiheit der Aleviten und behandelt sie diskriminierend

06.06.2016

Im Jahr 2010 reichten 204 türkische Staatsangehörige alevitischen Glaubens in Strassburg eine Beschwerde gegen die Türkei ein. Die Beschwerdeführer/innen machten dabei eine Verletzung von Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit) als solchen und in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) geltend. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte die Türkei am 26. April 2016 wegen Verletzung beider Garantien.

Sachverhalt und Prozessverlauf

Die Beschwerdeführer/innen wandten sich im Jahr 2005 an die türkische Regierung und verlangten in ihrem Gesuch, dass die türkischen Verwaltungsbehörden den Aleviten bestimmte Leistungen erbringen, dass ihre Gebetshäuser («cemevis» ) als solche anerkannt werden und dass ihre religiösen Führer den Beamtenstatus erhalten sollen. Ausserdem solle ein Teil des Budgets des Departements für religiöse Angelegenheiten auch den Aleviten zu Gute kommen. Die türkische Regierung wies dieses Gesuch jedoch zurück. Auch auf gerichtlichem Weg hatten die Beschwerdeführer keinen Erfolg, da alle Instanzen das Vorgehen der Regierung für rechtmässig erklärten.

Die Beschwerdeführer gelangten daraufhin an den EGMR und beanstandeten, dass die türkischen Behörden mit der Abweisung ihres Gesuches den Glauben der Aleviten nicht neutral und objektiv beurteilt hätten. Sie brachten zusätzlich vor, dass die türkischen Behörden die Aleviten diskriminierend behandeln würden. Obwohl sich die Angehörigen der alevitischen Religionsgemeinschaft und des sunnitischen Zweiges des Islams in einer vergleichbaren Situation befänden, würden sie ungleich behandelt, ohne dass dafür objektive und sachliche Gründe vorlägen.

Vor dem EGMR argumentierte die Türkei, dass der alevitische Glaube eine Interpretation des Islams sei, der durch den Sufismus beeinflusst wurde, und deshalb an sich nicht als Religion betrachtet werden könne. Deshalb sei in diesem Fall Art. 9 EMRK auch nicht betroffen.

Verstoss gegen die Religionsfreiheit

Der Gerichtshof sah in der Abweisung des Gesuchs der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 9 Abs. 1 EMRK, weil die Beurteilung des alevitischen Glaubens durch die türkischen Behörden praktisch einer Verweigerung gleichkomme, die eigenständige religiöse Natur dieses Glaubens anzuerkennen. Der Gerichtshof fand keine Rechtfertigung für diese Einschätzung der türkischen Behörden. Er prüfte dabei, ob sie gegenüber dem alevitischen Glauben neutral und unvoreingenommen waren.

In ihrem Urteil hielten die Richter fest, dass nur die höchsten religiösen Autoritäten der alevitischen Gemeinde und nicht der Staat bestimmen könnten, zu welcher Religion ihr Glauben gehöre. Deshalb hätte der türkische Staat das Gesuch der Beschwerdeführer nicht abweisen und sich auf die eigene Beurteilung des alevitschen Glaubens als einem Sufi-Orden berufen dürfen. Der EGMR stellte fest, dass die Verweigerung des Staates, die religiöse Natur dieses Glaubens anzuerkennen, auch den Effekt habe, die eigenständige Existenz der alevitischen Gemeinschaft abzustreiten.

Die Türkei verbiete per Gesetz die Existenz von Sufi-Orden und auch gewisse damit verbundene Praktiken. Ob die Aleviten ihren Glauben frei ausüben können, hänge deshalb vom Wohlwollen der türkischen Behörden ab, da der alevitische Glauben vom Staat als Sufi-Orden betrachtet werde. Die Türkei verunmögliche es den Mitgliedern des alevitischen Glaubens, ihre Gebetshäuser («cemevis») und den Titel «dede» für ihren religiösen Führer im Rahmen der geltenden Rechtsordnung zu gebrauchen.

Verstoss gegen  das Diskriminierungsverbot

Der EGMR stellte zunächst fest, dass die Situation der Beschwerdeführer vergleichbar sei mit derjenigen anderer Bürger/innen, was das Bedürfnis nach rechtlicher Anerkennung des Glaubens und die Gewährung der dazugehörigen Leistungen des öffentlichen Dienstes betrifft. Die Beschwerdeführer seien im Vergleich jedoch schlechter gestellt, da die alevitische Gemeinschaft rechtlich nicht anerkannt werde und auch nicht in den Genuss von staatlichen Leistungen komme.  Der Staat könne die Ungleichbehandlung der Aleviten und der Sunniten auch nicht objektiv und sachlich rechtfertigen, da er als Begründung seine Einstufung des alevitischen Glaubens als Sufi-Orden vorbringe. Deshalb sei das Diskriminierungsverbot von Art. 14 EMRK (in Verbindung mit Art. 9 EMRK) verletzt.

Abweichende Meinung

Fünf der 17 Richter der Grossen Kammer sahen Art. 9 EMRK als nicht verletzt an. Ihrer Meinung nach hätten die türkischen Behörden faktisch die Beschwerdeführer nicht an der Ausübung ihrer Religion gehindert und diese Rüge sei von den Beschwerdeführern auch nicht vorgebracht worden. Zwar sei das türkische Gesetz bezüglich des Verbots der Sufi-Orden problematisch, jedoch sei es nicht auf die Beschwerdeführer angewendet worden. Vielmehr hätte diese Beschwerde unter dem Gesichtspunkt der positiven Leistungspflicht des Staates beurteilt werden sollen, da die Beschwerdeführer in ihrem Gesuch an die türkischen Behörden Leistungen gefordert hätten. Dabei könne aus Art. 9 EMRK nicht abgeleitet werden, dass der Staat zum Beispiel den religiösen Führern der Aleviten ein Gehalt zahlen solle.

Dokumentation

Weitere EGMR-Urteile zur Religionsfreiheit der türkischen Aleviten

Hasan und Eylem Zengin gegen Türkei

Verletzung von Art. 2 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK (Recht auf Bildung).

Die kleine Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gelangt zur Auffassung, dass der Religionsunterricht die religiösen Überzeugungen der Eltern des Beschwerdeführers nicht respektiert, da sie dem alevitischen und nicht dem sunnitischen Glauben angehören. Auch die Möglichkeit zur Befreiung vom Religionsunterrichts bietet den Eltern keinen hinreichen Schutz.

Sinan Işık gegen Türkei

Verletzung von Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit).

Die kleine Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gelangt in ihrem Urteil zum Schluss, dass das Aufführen der Religionszugehörigkeit auf der Identitätskarte nicht mit der Religionsfreiheit vereinbar ist.

Mansur Yalçın und andere gegen Türkei

Verletzung von Art. 2 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK (Recht auf Bildung).

Die kleine Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stellt eine Verletzung von Art. 2 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK fest. Das türkische Bildungssystem ist derart ausgestaltet, dass die religiösen Überzeugungen der Eltern der Beschwerdeführer nicht hinreichend respektiert werden können. Die Eltern gehören dem alevitischen Glauben an.

Cumhuriyetçi Eğitim Ve Kültür Merkezi Vakfi gegen Türkei

Verletzung von Art. 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 9 (Religionsfreiheit) EMRK.

Das türkische Recht sieht für Gebetshäuser die Möglichkeit vor, sie von der Bezahlung der Elektrizitätsrechnung zu befreien. Die kleine Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stellt fest, dass die Praxis der Türkei, die Aleviten von dieser Regelung auszuschliessen, diskriminierend ist.