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EGMR verurteilt Italien wegen Polizeieinsatz am G-8-Gipfel

07.05.2015

Ein Toter und 500 Verletzte waren nach dem gewalttätigen Einsatz der Polizei anlässlich des G-8-Gipfels in Genua im Juli 2001 zu beklagen. Gemäss einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 7. April 2015 hatte Italien im Rahmen der damaligen Polizeiaktion gegen das Folterverbot (Art. 3 EMRK) verstossen. Das Urteil bezieht sich auf die Beschwerde eines Globalisierungskritikers. Dieser war bei einer nächtlichen Razzia in einer Schule, welche als Übernachtungsort für G8-Gegner/innen diente, von Polizeikräften willkürlich zusammen geschlagen worden. Die für die Tat verantwortlichen Polizisten wurden nie zur Verantwortung gezogen.

Heftige Strassenschlachten

Am Rande des G8-Gipfels kam es vor 14 Jahren zu grossen Protestaktionen von bis zu 300‘000 Menschen aus ganz Europa und den USA. Sie hatten sich in Genua versammelt, um gegen das Treffen der Regierungschefs der bedeutendsten Wirtschaftsmächte zu demonstrieren. Den Demonstrierenden stand ein Sicherheitsaufgebot von 20‘000 Polizisten/-innen gegenüber. Dabei kam es zu heftigen Strassenschlachten zwischen Polizei und Demonstrierenden, in deren Folge ein junger Mann von einem Polizisten mit einem Kopfschuss getötet wurde. Der Polizist wurde in einem andern Verfahren von der Grossen Kammer des  EGMR am 24. März 2011 wegen Notwehr freigesprochen (vgl. Giuliani and Gaggio v. Italy, Nr. 23458/02).

Brutales Vorgehen der Polizei

Der EGMR hatte sich im vorliegenden Fall mit der Erstürmung der Diaz-Pertini-Schule zu befassen, welche den Globalisierungskritikern/-innen von der Stadt als Schlafplatz zur Verfügung gestellt worden war. In der Nacht nach Ende des G-8-Gipfels drang eine Sondereinheit der Polizei in das Gebäude ein, nachdem sie Hinweise erhalten hatte, dass sich schwarz bekleidete junge Menschen in der Schule aufhielten. Bei der rabiaten Durchsuchung des Gebäudes auf der Suche nach Angehörigen des «Schwarzen Blocks» wurden 73 Personen verletzt, viele davon schwer. Unter ihnen befand sich auch Arnaldo Cestaro, ein damals 62-jähriger Globalisierungsgegner. Cestaro wurde von den Polizisten grundlos getreten und mit Schlagstöcken geschlagen. Dabei wurden ihm mehrere Knochenbrüche zugefügt, von denen er sich bis heute nicht wieder vollumfänglich erholt hat. Cestaro gelangte deswegen an den EGMR in Strassburg, unter Berufung auf Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), welcher besagt, dass niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.

Das Urteil des EGMR

Der Gerichtshof unterstreicht in seinem Urteil, bereits das italienische Kassationsgericht sei zum Schluss gekommen, dass die gewalttätigen Aktionen der Polizei in einer strafenden Absicht verübt worden seien, eine Demütigung sowie physisches und psychisches Leiden der Opfer verursachen sollten und dass sie deswegen als «Folter» im Sinne von Art. 1 der UNO-Folterkonvention einzustufen seien.

Der EGMR merkt des Weiteren an, dass kein kausaler Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Klägers und dem gewaltsamen Vorgehen der Polizei in der Tatnacht bestanden hätte, da ersterer mit erhobenen Armen an einer Wand gesessen habe, als die Polizei das Gebäude betrat. Der Kläger habe der Polizei keinen Anlass zur Gewalt gegeben und die grobe Misshandlung sei deshalb völlig unbegründet zugefügt worden. Zudem sei das Verprügeln des Mannes durch die Polizei unverhältnismässig gewesen, um das eigentliche Ziel, nämlich die Suche nach Beweismitteln zur Identifikation von Mitgliedern des «Schwarzen Blocks», zu erreichen.

Das Gericht folgert, dass die Misshandlung unter den Tatbestand der «Folter» im Sinne von Art. 3 EMRK falle. Der Eingriff war demnach durch nichts zu rechtfertigen, weshalb der Kläger Anspruch auf die Zahlung von 45‘000 Euro durch den italienischen Staat hat.

Straflosigkeit für ausführende Polizisten/-innen

Zuvor  waren zwar einige höhere Funktionäre und Polizisten für die Vorfälle in der Diaz-Pertini-Schule verurteilt worden. Viele Angeklagte konnten einem Urteil jedoch entgehen, da ihre Fälle während den laufenden innerstaatlichen Prozessen verjährten. Die Urteile fielen des Weiteren oft auch sehr mild aus, nicht zuletzt deshalb, weil den Tätern ein italienisches Gesetz von 2006 zu Gute kam, welches eine Reduktion der Strafen um drei Jahre vorsieht.

Diejenigen Polizeikräfte, die Cestaro misshandelt hatten, konnten allerdings nie identifiziert werden. Deshalb konnte die italienische Staatsanwaltschaft auch keine Anklage gegen diese erheben. Der EGMR führt dies nicht auf Fehler der italienischen Staatsanwaltschaft zurück, sondern bemängelt vielmehr die fehlende Bereitschaft der Polizei zur Kooperation. So habe die Polizei straflos die Identität der fehlbaren Beamten zurückgehalten und dadurch eine Zusammenarbeit mit der Justiz verweigert. Der Gerichtshof führt u.a. aus, dass das erstinstanzliche italienische Gericht bei der Beurteilung der individuellen Verantwortung die Ansicht vertrat, dass die gewalttätigen Polizisten im Glauben waren, im Sinne ihrer vorgesetzten Funktionäre und Kadermitglieder gehandelt zu haben. Die Befolgung der Dienstanweisung hatte innerstaatlich die ausführenden Polizisten/-innen vor Strafverfolgung geschützt.

Mangelnde Umsetzung des Folterverbots

Der EGMR verknüpfte in seinem Urteil die Tatsache der innerstaatlichen Straflosigkeit für die ausführenden Polizisten/-innen mit dem Umstand, dass das italienische Strafrecht keinen Tatbestand der Folter kennt. Wäre ein Foltertatbestand gegeben gewesen, so bestünde bei einem entsprechenden Vorwurf die Pflicht des Staates zur lückenlosen effizienten Untersuchung des Vorfalls, welche selbstverständlich auch die Identifizierung der angeschuldigten Polizisten/-innen einschliesst. Eine effiziente Untersuchung hat rasch zu erfolgen und das Opfer muss in die Untersuchung einbezogen werden.

Welchen Unterschied macht das Folterverbot?

Das Urteil hält fest, dass aufgrund der italienischen Rechtslage Vorfälle exzessiver Polizeigewalt, die wie im vorliegenden Fall wegen ihrer Intensität unter das Folterverbot fallen, nicht ausreichend untersucht und bestraft werden können. Weil letzteres aufgrund der EMRK und weiterer internationaler Abkommen zwingend ist, wird Italien aufgetragen, das Folterverbot im Strafrecht zu verankern. Nach Ansicht des EGMR hätte ein explizites Folterverbot darüber hinaus eine abschreckende Wirkung und könnte dazu beitragen, dass Polizeiangehörige in Zukunft ähnliche willkürliche Gewalttaten unterlassen.

Ein solches Verbot hat weitere Auswirkungen auf verschiedene Bereiche, die von Italien nur ungenügend beachtet wurden. So müssten laut dem EGMR die Polizeikräfte bei Einsätzen möglichst unmaskiert sein. Eine Vermummung dürfe nur in Ausnahmefällen, falls für die Sicherheit der Polizisten absolut notwendig, vorgenommen werden. Auch dann müsse aber jeder einzelne Polizist mit einer Nummer gekennzeichnet sein, damit eine effiziente Untersuchung bei Vorwürfen gegen eine Person im Dienst des Staates möglich bleibt.

Ausserdem muss ein Folterverbot gewährleisten, dass bei Vorwürfen gegen Polizisten/-innen die mutmasslichen Täter/innen während der Untersuchung zu dispensieren und bei einer Verurteilung aus dem Dienst zu entlassen sind. Auch muss dem Opfer bei einer Verurteilung ein Schadenersatz zugesprochen werden.

Handlungspflicht Italiens

Der EGMR kommt in seinem Urteil zum Schluss, dass die italienischen Behörden nur ungenügend auf die gewalttätigen Handlungen der Polizei reagiert haben. Die Reaktion sei nicht zu vereinbaren mit den prozeduralen Verpflichtungen aus der EMRK. Italien muss die Mängel nun beheben und sicherstellen, dass bei übertriebener Polizeigewalt, welche wegen ihrer Intensität allenfalls unter das Folterverbot fällt, effiziente strafrechtliche Mittel ergriffen werden können, welche unter Umständen zu einer strafrechtlichen Sanktion führen. Die positiven Leistungspflichten des italienischen Staates beinhalten demnach auch die Pflicht, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, der effektive Strafrechtsnormen einschliesst.

Italien hat die Möglichkeit, gegen das Urteil des EGMR die Grosse Kammer anzurufen. Es bleibt allerdings zu hoffen, dass Italien vielmehr die Lücken im Menschenrechtsschutz zu schliessen sucht und seine Gesetzgebung so anpasst, dass erneute ungerechtfertigte Gewalttaten durch die Polizei verhindert oder zumindest effizient verfolgt und bestraft werden können.

Folgen für die Schweiz?

Die klaren Worte des Urteils des Gerichtshofes werfen für die Schweiz wichtige Fragen auf. Denn auch hierzulande besteht kein ausdrückliches Folterverbot. Dies wurde von internationalen Menschenrechtsgremien schon öfters bemängelt. Es sollte daher zumindest sorgfältig geprüft werden, ob das Verbot der Folter in genügendem Masse durch andere Straftatbestände abgedeckt ist oder ob in diesem Bereich ein akuter Handlungsbedarf besteht. Letzteres wird sowohl von diversen schweizerischen NGO wie auch von den Nationalen Kommission zur Verhütung der Folter NKVF eindeutig bejaht.

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