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Verletzung von Art. 11 EMRK: Entlassung von Gewerkschafter/innen

16.10.2017

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte konkretisiert im Fall Tek Gida Iş Sendikasi v. Turkey (App. No. 35009/05) den Rechtsschutz vor missbräuchlicher Kündigung von Gewerkschaftern. Eine Entschädigung von einem Jahreslohn bei missbräuchlicher Kündigung wirkt gemäss den Richter/innen des EGMR nicht abschreckend genug und stellt demnach eine Verletzung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) dar.

Sachverhalt

Das türkische Nahrungsmittelunternehmen Tukaş Gıda Sanayi ve Ticaret kündigte allen Mitgliedern der Gewerkschaft Tek Gida Iş Sendikasi. Die Organisation hatte sich zuvor um die Anerkennung als Gewerkschaft bemühte, was vom Unternehmen - mittels eines Gerichtsverfahrens - erfolgreich verhindert wurde.

Die Gewerkschafter/innen fochten ihre Entlassung Anfangs 2004 vor den nationalen Gerichten an und verlangten ihre Wiedereinstellung. Die türkischen Gerichte taxierten die Entlassungen als missbräuchlich und verpflichteten das Unternehmen zur Wiedereinstellung oder zu einer Entschädigungszahlung in der Höhe von einem Jahresgehalt. Bei ihrem Entscheid stützten sich die nationalen Gerichte auf die einschlägigen türkischen Gesetze. Der Arbeitgeber entschied sich in allen Fällen für die Bezahlung eines Jahresgehalts.

Die Gewerkschaft machte daraufhin eine Verletzung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) vor dem EGMR geltend. Konkret hätten die einschlägigen türkischen Gesetze bzw. die türkischen Gerichte das Unternehmen nicht davon abgehalten, durch missbräuchliche Kündigung die Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zu verhindern.

Urteil des EGMR

Der EGMR hält in seinem Urteil fest, dass die Gewerkschaftsfreiheit in den Schutzbereich von Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) falle und die Vertragsstaaten die notwendigen Schritte unternehmen müssen, um dieses Recht zu garantieren. Bei vermeintlichen Verletzungen der Gewerkschaftsfreiheit sei den Vertragsstaaten jedoch ein gewisser Ermessensspielraum zu gewähren. Dies bedeutet, dass nicht jedes Tun oder Unterlassen, welches die Gewerkschaftsfreiheit tangiert, auch automatisch einer Verletzung von Art. 11 EMRK gleich kommt.

Im vorliegenden Fall sei dieser Ermessenspielraum jedoch sehr eng auszulegen, denn die Bezahlung der Entschädigungssumme für die missbräuchliche Kündigung habe dazu geführt, dass gewerkschaftliche Aktivitäten in der Unternehmung vollständig verhindert wurden. Die nationalen Gerichte hätten im vorliegenden Fall nicht überprüft, ob die nationale Gesetzgebung eine genügend abschreckende Wirkung aufweist, um den Arbeitgeber davon abzuhalten, die Gewerkschaftsmitglieder unrechtmässig zu entlassen. Dabei hätten insbesondere die Finanzkraft des Unternehmens und die tiefen Löhne der Angestellten berücksichtigt werden müssen. Die Bezahlung eines Jahresgehalts als Entschädigung habe keine ausreichende abschreckende Wirkung erzeugt, um den Arbeitgeber vor künftigen antigewerkschaftlichen Entlassungen abzuhalten.
Der nationale Gesetzgeber und die Gerichte seien somit ihren positiven Schutzpflichten bezüglich der Gewerkschaftsfreiheit nicht nachgekommen und es liege eine Verletzung von Art. 11 EMRK vor.

Situation in der Schweiz

Bei missbräuchlicher Kündigung sieht Art. 336a des Schweizerischen Obligationenrechts eine Entschädigungszahlung von maximal sechs Monatslöhnen vor. In der Praxis werden die Unternehmen jedoch oft bloss zur Bezahlung von zwei bis drei Monatslöhnen verpflichtet. Eine Gesetzesrevision mit der Anhebung der Entschädigung auf 12 Monate ist 2012 bereits nach der Vernehmlassung gescheitert.

Gemäss der Rechtsprechung des EGMR im vorliegenden Fall dürfte die Sanktion von maximal sechs Monatslöhnen in Art. 336a OR kaum ausreichenden Schutz vor antigewerkschaftlichen Kündigungen bieten. Die International Labour Organization (ILO) hat diesbezüglich mehrmals festgehalten, dass Art. 336 OR nicht den völkerrechtlichen Vorgaben entspreche. Es dürfte somit nur eine Frage der Zeit sein, bis auch der EGMR die Schweiz wegen der Verletzung von Art. 11 EMRK verurteilt.